2 Abgrunds Wege
Dunkel sind des
Abgrunds Wege
Musst du sie
gehen, gehe rege
Schau nicht
hinab und bleib’ nicht stehen
Willst du den
Morgen wieder sehen
Lass’ die
Schatten kommen und geh’n
Beachte sie
nicht und lass’ sie verweh’n
Denn willst du
mit ihnen tändeln und lachen
Werden sie sich
vertausendfachen
Sie werden dir
schmeicheln und werden dich locken
Sie werden lustvoll
im Wahn frohlocken
Sie werden dich
binden, sie werden dich knebeln
Sie werden dich
in den Abgrund hebeln
Dunkel sind des
Abgrunds Wege
Musst du sie
gehen, gehe rege
Schau nicht
hinab und bleib’ nicht stehen
Willst du den
Morgen wieder sehen [1]
Es kommt vor auf deiner Lebenswanderung, dass du einen grauenhaften Abgrund entlang wandern musst. Solche Abgründe gibt es unzählige, und viele lassen sich einfach nicht vermeiden, weil der einzige Weg genau an ihrer Kante verläuft. Wenn du ein Leben leben willst das diesen Namen verdient, dann fürchte dich nicht vor den Abgründen. Fürchte dich nicht, aber behandle sie mit grösster Achtung, mit grösstem Respekt. Sie sind gefährlich, sie können vernichten.
Auf einem Drogentrip spazierte ich über die Kornhausbrücke in Bern. Da hörte ich meinen Namen rufen. Zuerst nur sanft und leise, dann immer eindringlicher. Die Stimme kam von unten, von der Aare. Ich beugte mich über die Brüstung und noch eindringlicher wurde von unten mein Name gerufen. Da hob ich mein linkes Bein über die Brüstung. Schon sass ich halbwegs auf der Mauer, als ich mit einem Schlag erwachte und meine Absicht erkannte: Ich war drauf und dran der Stimme zu folgen und mich in den Abgrund zu stürzen. Ein riesiger Schrecken erfasst mich und ich rannte, rannte über die Brücke und bis nach Hause. Erst Jahre später wurde mir klar, dass die Brücke und ihr Abgrund Sinnbild waren des eigentlichen Abgrunds, dem entlang ich zu jener Zeit gewandert bin: Dem Abgrund mit dem Namen „Drogen“. Wie ich auf der Kornhausbrücke mit dem Schrecken davon-gekommen bin, so auch bezüglich des Drogenkonsums. Aber nicht jedem ergeht es so, viele erwachen nicht aus dem Traum und gehorchen den Schattenstimmen ohne deren wahre Natur zu erkennen.
Es gibt viele Schattenstimmen die zu dir sprechen. Es ist nicht leicht, sie von den Stimmen des Lichts zu unterscheiden. Das braucht Übung und ein klares Bewusstsein. Nur dann ist es möglich, die Schatten furchtlos kommen zu lassen, ihnen zu begegnen und sie ohne Halten weitergehen zu lassen. Wenn du es schaffst, ihnen keine unnötige Beachtung zukommen zu lassen, dann werden sie verwehen, sie werden vergehen wie Dunkelheit die von Licht berührt wird.
Egal ob es sich um Schatten der Gier, des Hasses oder der Verblendung handelt: Sobald du mit ihnen liebäugelst, und sei es nur so zum Spass, werden sie sich ungehindert und rasant vermehren. Vieles, was du unternimmst, im Glauben damit deinen Daseinsschmerz zu lindern, entpuppt sich so als ein Fass ohne Boden, als ein Abgrund der dich tiefer reisst und dir statt Leidbefreiung nur mehr und mehr Leiden schenkt.
Strebe nach einem Sein im Licht. Suche nicht Schatten und Dunkelheit,
denn diese haben kein wahres Sein, keine eigene Existenz. Halte dich an das
Gute, Schöne und Wahre.