Dem Leben vertrauen

 




Zum (Mundart-) Lied
SUNNTIG 
(CD "Uelis Schrot" 2007)

19     Dem Leben vertrauen

 

Dem Leben zu vertrauen, das bedeutet auch dem Leiden und dem Tod zu vertrauen. Wenn Leiden und Tod Angst machen, dann macht das Leben Angst, denn Leben heisst nicht nur „sex, sun and fun“, sondern ganz existenziell auch Schmerz, Leiden, Verlust, Tod. Keiner vertraut dem Leben, der dem Sterben nicht vertrauen kann. Keiner vertraut dem Leben, der dem Leid misstraut. Dem Leben vertrauen bedeutet, dem Leben in seiner umfassenden Ganzheit, Licht und Finsternis, Freude und Leid, Geborenwerden und Sterben zu vertrauen, nicht bloss der einen Hälfte.

Der sogenannte Optimist und der positive Denker vertrauen dem Leben nicht mehr, als der sogenannte Pessimist und der negative Denker. Das Leben ist positiv und negativ zugleich und berechtigt so gesehen zu Optimismus und zu Pessimismus gleichermassen. Der Optimist sieht seinen Lebensweg im Licht des Lebens, der Pessimist sieht ihn in der Dunkelheit des Todes. Der Buddha lehrte den mittleren Weg, die Überwindung solcher scheinbarer Gegensätze, das Erkennen der gegenseitigen Ergänzung in den Polen der Dualitäten. Die als Leben und Tod, als Geborenwerden und Sterben, als Freude und Leid aufscheinende Existenz berechtigt zu Optimismus und positivem Denken nicht mehr und nicht weniger als zu Pessimismus und negativem Denken. Deshalb besteht die Befreiung oder Erlösung nicht in der Gewinnung des einen Pols zulasten des anderen, was gar nicht möglich ist, sondern in der Transzendenz beider Pole, das heisst im Übersteigen sowohl negativer als auch positiver Vorstellungen bezüglich des Lebens. Dem Leben vertrauen heisst, das Leben in seiner Ganzheit annehmen wie es ist.

Verwundungen und Schmerzen sind unvermeidlich. Wo Leben ist, da wird Leben verwundet, und wo Leben verwundet wird, da wird Schmerz erlebt. Wenn du es nicht vermagst, dem Leben die Wunden, die es dir geschlagen und die Schmerzen, die es dir zugefügt hat, zu vergeben, dann kannst du niemals Vertrauen finden dem Leben und Sterben gegenüber. Die Vergebung zu finden fällt dir umso leichter, als du die Lebenswirklichkeit klar erkennst. Letztlich wird Vergebung sogar unnötig, weil Vergebung nur dort notwendig und sinnvoll ist, wo zuvor eine Anklage, eine Schuldzuweisung statt-gefunden hat. Wenn du die Wirklichkeit des Seins, die Daseinsgesetze „Vergänglichkeit“, „Leidunterworfenheit“ und „Selbstlosigkeit“ in aller Tiefe und Klarheit erlebnismässig erkannt hast, dann wird dein Herz, dein Geist, vollkommen frei sein von irgendeiner Anklage und Schuldzuweisung. Wenn die Wirklichkeit als Wirklichkeit erkannt und akzeptiert ist, dann gibt es nichts mehr zu vergeben, weil nichts mehr schuldig gesprochen wird.

Viel Schönes gibt es zu erleben, und was als Schönes erlebt wird, das ist so individuell wie es die erlebenden Menschen sind. Nur du selber weißt, was für dich die schönen Seiten des Lebens sind. Geniesse alles Schöne, dass du in den wenigen Jahren deiner Existenz erleben kannst. Geniesse es, was an Schönem auf dich zukommt, aber halte es nicht fest und jage ihm nicht nach. Wenn es kommt, lass es kommen, wenn es ist, lass es sein, wenn es vergeht, lass es gehen.

Es gibt auch hässliche Zeiten. Das ist die andere Seite des Seins. Es ist die Seite, die du gerne verdrängst, die du lieber nicht erleben möchtest, von der du meinst, sie gehöre nicht zum Leben, habe nicht zum Leben zu gehören. Aber das Leben richtet sich nicht nach deinen Vorstellungen darüber, wie es sein sollte und wie nicht. Es ist wie es ist. Schön und hässlich.

Schuldgefühle sind Selbstanklagen, Not ist das Nichtein-verstandensein mit der Wirklichkeit wie sie ist. In der Selbstanklage nimmst du dich zu wichtig, ebenso im Nichteinverstandensein mit der Wahrheit. Die Wahrheit ist nichts anderes als die Wirklichkeit wie sie ist. Was wirklich ist, das ist auch wahr, eben weil es wirklich ist. Was nicht wirklich ist, das ist auch nicht wahr, eben weil es nicht wirklich ist. Wenn du dich schuldig fühlst für irgendetwas, dann machst du dich selber, ein für real gehaltenes „Ich“, zum Herrn und Besitzer über dieses Etwas, zum Täter einer geschehenen Tat, während in Wirklichkeit die Tat in einem vielfältigen Bedingungszusammenhang wurzelt und von diesem ausgegangen ist, nicht von einem für wirklich gehaltenen unabhängigen „Ich“.

Judas Ischariot, der Jünger, der Jesus verriet, schrieb diese Tat seinem vermeintlichen Ich in die Schuhe und erhängte sich, wahrscheinlich von Schuldgefühlen gepeinigt. [1]  Die Wirklichkeit des Geschehens sah aber anders aus: Gott, die Wahrheit, die Wirklichkeit selber erforderte diesen Verrat, was sich dort zeigt, wo Jesus den Vater, den alles tragenden Dharma, darum bittet, den Kelch des Todes an ihm vorbeiziehen zu lassen. Jesus erkannte dort die Wahrheit seines Lebensweges und später hiess er selber Judas zu tun, was diesem zu tun im Bedingungszusammenhang auferlegt war.[2]

Der menschliche Wille ist nur bedingt frei, niemals unbedingt. Einen unbedingten freien Willen gibt es nicht. Du kannst Entscheidungen treffen im Rahmen der Voraussetzungen, die du mitbringst, mehr nicht. Es gibt viele Dinge, über die hast du keine Macht, die sind deinem Willen nicht zugänglich. Du kannst eine Tat, die durch dich geschehen ist, bereuen, und echte Reue heisst: Du tust es nicht wieder. Wenn du es wieder tust, dann war die Reue nicht tief genug. Klage nicht dich oder andere als Täter an, aber lerne die verschiedenen Taten kennen wie sie sind. Es gibt Schuld und Not und das Blut des Abendrots, das in Dunkelheit und Finsternis übergeht. Es gibt Wege entlang von Abgründen, und man kann auch in Abgründe hinunterfallen.

Jede Dunkelheit weicht einem neuen Morgen, einem Morgen, der das Blut des Abendrots bereits in sich trägt und als Morgenrot verkündet (und umgekehrt). Der Buddhismus nennt diesen Zyklus von Werden und Vergehen, von Licht und Finsternis, von Freude und Leid „Samsara“, „das Rad des Lebens“. Erkenne den Samsara wie er ist. Das klare, erlebte Erkennen der Daseinswirklichkeit ist es, das befreit und erlöst. Es befreit und erlöst von Illusionen, von Verblendung bezüglich des Seins, es befreit und erlöst dadurch von der Gier nach dem Sein und vom Hass auf das Sein.

Sind die Illusionen, ist die Ignoranz bezüglich der Wirklichkeit erloschen, dann entsteht auch kein Begehren mehr nach irgendeinem Erleben, sei es profan weltlich oder überirdisch spirituell. Dann findet dein Leben nicht mehr in Erwartungen und Hoffnungen auf ein besseres Morgen oder auf ein besseres Leben nach dem Tod statt. Du erkennst alles Leben als spirituell, das Spirituelle ist nicht mehr getrennt vom Alltäglichen. Deine Seele hat zur Ruhe gefunden, ist gestillt in der Wahrheit, in der Wirklichkeit wie sie ist. Du hast den Frieden der Seele, hast die Freiheit des Geistes gefunden. „Wandle im Frieden“, mit diesen Worten verabschiedete sich Jesus gelegentlich von einem Menschen. Wandle im Frieden. Du bist frei.


Lied:
EM LÄBE VERTROUE



[1] Bibel Mt 27,3-5

[2] Bibel, Joh 13,21-27