Gefängnis aus Glas

 


Zum (Mundart-) Lied
(CD "Uelis Schrot" 2007)




3       Gefängnis aus Glas

 

Anlässlich eines Seminars während des Studiums in Sozialtherapie wurde uns eine leere Mineralwasserflasche gegeben mit dem Auftrag, daraus etwas Kreatives zu schaffen. Es war sehr eindrücklich zu sehen, wie fantasiereich die einzelnen Studenten die Aufgabe meisterten. Mein Beitrag war das Lied „Gefängnis aus Glas“[1]. Ich habe die Flasche eine Weile angeschaut und plötzlich sah ich mich selber darin, als kleines Menschlein, gefangen in diesem Kerker aus Glas.

Das Gefängnis aus Glas ist der im vorherigen Kapitel beschriebene Abgrund. In dieses Gefängnis fällst du, wenn du zu lange in den Abgrund blickst, wenn du dich von der verlockenden Stimme die dich ruft und dir Versprechungen macht verführen lässt. Das Gefängnis ist das Süchten des ichzentrierten Menschen, sein Verlangen nach Besitz, sein Habenwollen, sein Erlebenwollen. Die Objekte dieser Begierde sind so vielfältig wie es die Wünsche der Menschen sind: Geld, Macht, Ruhm, Rausch, Betäubung, Sex, Arbeit, Freizeit, Religion… alles kann dich mit sanften Stimmen rufen und in den Abgrund der Abhängigkeit locken.

Das war mein Bild: Das Bild des gefallenen Menschen in einem Gefängnis aus Glas.

Der Abhängige, Süchtige, sieht wohl das Leben um sich herum noch, ist aber von ihm wie durch die unsichtbare Wand seiner Gefangenschaft getrennt. Und dieses Getrenntsein vom freien, vom frei fliessenden Leben wird erlebt als zunehmende Kälte und Starre, vorausgesetzt die Selbstwahrnehmung von Geist und Herz ist noch nicht vollständig zum Erliegen gekommen.

Wenn du dich als gefangen erkennst und der Wunsch nach Befreiung in dir laut wird, dann sind dein Geist und dein Herz noch lebendig, dann ist deine Selbstwahrnehmung noch intakt. Was kannst du tun? Wie kommst du aus der Flasche heraus?

Du erkennst vielleicht, es wird dir bewusst, dass du nicht erst seit gestern in dieser Flasche sitzt. Du warst zuwenig achtsam, zu wenig bewusst, du dachtest, die Stimme im Abgrund sei echt, sei wahr, und wenn du ihr folgtest, würde sie dich reich belohnen mit Glück und Wohlergehen oder sie würde zumindest deine Leiderfahrung betäuben. Nun erkennst du, dass die Stimme gelogen hat. Du wurdest betrogen. Du siehst rückblickend, wie lange es bereits her ist, seit du gefallen bist. Das Gefängnis ist alt. Du frierst.

Mein Bild ging weiter: Ich sah, dass Regen kommen müsste. Die Flasche müsste im Regen stehen und, obschon der Flaschenhals sehr eng ist, würde mit der Zeit sich Wasser sammeln in der Flasche und der Wasserspiegel würde höher und höher klettern, und so würde ich schliesslich aus dem Gefängnis hinausgeschwemmt werden.

Nun kannst du es aber nicht selber regnen lassen. Über das Wetter hast du keine Macht. Vielleicht gibt es tatsächlich Regenmacher, die solches zu tun vermögen, aber du? Du weisst, dass der Regen eigenen Gesetzmässigkeiten folgt. Diese Gesetzmässigkeiten sind der Herr des Regens. Diesen Herrn ruft dein gefangenes Herz an. Nicht Worte sind es primär, sondern die erlebte Kälte, der erlebte Schmerz, die erlebte Verlassenheit sind es, die den Ruf ausmachen.

Das Wasser trägt dich genau soweit, als du dich seinen Gesetzmässigkeiten einfügst. Verhältst du dich wie ein Stein, denkend: „So, nun mach’ mal“, dann wirst du ertrinken. Ohne deinen eigenen Einsatz geschieht nichts Befreiendes. Damit dich das Wasser trägt, musst du dich dem Wasser gemäss verhalten. Du musst schwimmen oder dich auf dem Rücken liegend, richtig atmend, mit einem Minimum an Bewegung vom Wasser tragen lassen. Das Wasser trägt dich sobald und soweit du dich auf sein Wesen einlässt.

Wer weiss, vielleicht war der Schrei deines Herzens der Regenmacher? Das Wasser ist gekommen, es regnet aus dem Leben ausserhalb des Gefängnisses direkt in deinen Abgrund hinein. Dieses Lebenswasser erfüllt dein Gefängnis, der Abgrund läuft über von Leben und du schwimmst in die Freiheit. Das ist Glück, das ist wahres, echtes Leben! Frei und ungebunden! Freude, Glückseligkeit, Licht und Leben umgeben und durchtränken dich.

Dankbarkeit erfüllt dein Herz, deinen Geist. Sie will sich verströmen an das Leben, an das neu wiedergefundene Leben. Die Kraft dieses Lebens mit seinen gesetzmässigen Bedingungen und Bedingtheiten hat den Regen fallen, das Wasser des Lebens strömen lassen.

Dieses umfassende lebendige Ganze nennst du vielleicht Herr oder Gott oder Tao oder Dharma oder Gesetz. Der Name den du ihm gibst ist nicht so wichtig, er ist bedingt durch die Kultur, in der du aufgewachsen bist und lebst. Das Bild, das du dir machst von diesem Ganzen ist ein Bild deiner Vorstellungs-kraft, es weißt auf das Leben hin, ist es aber nicht selber. Das Symbol, das du benützt um diese Wahrheit darzustellen, ist ein mögliches unter unzähligen. Achte sehr darauf, dies niemals zu vergessen. Wenn du es vergisst, wirst du in einen neuen Abgrund fallen, in eine neue Gefangenschaft, in die Sklaverei von dogmatischem Absolutismus und religiösem Fanatismus. Dem beuge vor durch Achtsamkeit und Bewusstseinsklarheit.



[1] Geschrieben in Mundart, 2. November 2004