Der Weg des Lebens

 




Zum (Mundart-) Lied
(CD "Uelis Schrot" 2007)

18     Der Weg des Lebens

 

Wenn dein Leben ein Gehen, eine Wanderung ist, du aber keine Ahnung hast, wohin diese Wanderung, dein Lebensweg dich führen wird, dann gehst du über das Wasser, dann trägt das Unbekannte dich und das Unbekannte führt deinen Schritt wohin es will. Obwohl du nicht weißt wohin du gehst, bleibst du nicht resignierend stehen. Mutig gehst du deinen Weg im Vertrauen auf das Tragende, den Dharma, das Gesetz des Seins, im Vertrauen auf Gott.

Die Strasse der Existenz ist schnurgerade, sie führt von der Geburt zum Tod. Dein Gehen auf dieser Strasse aber ähnelt eher dem Torkeln eines Betrunkenen, der vom geraden Weg nach links und rechts ausschert, sich auch mal verirrt und gar wieder retour geht, der immer wieder hinfällt, auch ab und zu liegen bleibt und schliesslich irgendwo einschläft um nach einer kürzeren oder längeren Zeit durstig und mit Kopfschmerzen zu erwachen und den Weg erneut unter seine Füsse zu nehmen. Was dich auf dem eigentlich geraden Weg torkeln macht, was dich schwindlig macht, das ist die Aussicht auf das Ziel, den Tod. Davor schreckst du zurück, dieses Ziel willst du nicht wahrhaben, und so tust du, als ob du nicht wüsstest, wo der Weg endet.

Dein Verstand weigert sich, zu wissen, wohin dein Lebensweg dich führt, aber dein zögerliches und torkelndes Gehen verrät, dass dein Körper sehr wohl im Bilde ist. Würde dein Verstand, würde die Angst, die in deinem Verstand sitzt, den Körper nicht blockieren, dann würde der Körper aufrecht und mutig, ohne Zweifel und furchtlos mit weit ausladenden Schritten den Weg des wahren Lebens gehen. Die Weisheit des Körpers überragt diejenige des Verstandes bei weitem. Wenn dein Verstand einwilligt von der körperlichen Wirklichkeit zu lernen, den Körper und seine Weisheit zu seinem Lehrer zu machen, dann kann Einsicht geschehen, echte und tiefe Einsicht in die Daseinswirklichkeit. In dieser Einsicht kann der Verstand die Bewusstheit finden über die Tatsache, das Geborenwerden und Sterben zwei Seiten derselben Münze sind, dass das Leben, alles Leben, den Tod in sich trägt. Und du erkennst, dass es nicht ganz korrekt war, wenn wir vorhin die Strasse der Existenz als mit der Geburt beginnend und mit dem Tod endend bezeichnet haben, sondern das vielmehr die Wirklichkeit so ausschaut, dass Leben und Sterben eines sind, dass Leben ein anderes Wort ist für Sterben. Du kannst die Wahrheit der Vergänglichkeit alles Geborenen, Entstandenen, in dir selber und in deiner Umwelt erkennen. Körperliches und Geistiges: Ein einziges durchgängiges Entstehen und Vergehen, das nennen wir Leben. Du siehst nun, dass Leben nichts anderes ist als ein unaufhörliches Vergehen von Dingen und Zuständen und ein ebenso unaufhörliches Entstehen von neuen Dingen und Zuständen. Du beginnst zu ahnen, vielleicht zu befürchten, dass der Weg nirgendwohin führen könnte.

Wenn du mich fragst, warum dein Lebensweg dermassen krumm verlaufe, dann sage ich dir, dass er krumm verläuft, weil du seine Wahrheit, seine Wirklichkeit noch nicht erkannt, noch nicht durchschaut hast. Du willst gewinnen und weigerst dich zu verlieren. Das Leben aber besteht nicht nur im Gewinnen, im Anhäufen, sondern genauso sehr im Verlieren und Abschichten. Du kannst nicht nur einatmen, du musst auch ausatmen. Die letzte Bewegung deines Atems aber wird nicht ein Einatmen sein, sondern ein Ausatmen. Wenn du dein Leben mehr auf das Ausatmen als auf das Einatmen, mehr auf Loslassen als auf Ergreifen ausrichtest, dann wird es leichter werden, du wirst leichter werden, dein Gang wird aufrecht werden und das Torkeln wird aufhören.

Und wenn das Torkeln auch noch nicht ganz aufhören sollte, wirst du dennoch deinen Weg mit mehr Zuversicht, mit mehr Vertrauen, mit mehr Mut und Kraft gehen. Einfach aus dem Grunde, weil du nichts mehr gewinnen, nichts mehr ergreifen und nichts mehr festhalten musst. Du lässt immer wieder los, was du ergriffen hast, und mit jedem Loslassen kann dein Körper sich wieder ein wenig aufrichten und dein Geist wird aufrichtiger.

Das ist der Weg der Gesundung, der Heilung und der Heiligung: Nicht mehr Anhäufen sondern Abschichten, nicht mehr Anhaften als Besitzer an Besitz, sondern Loslassen aller Ich- und Mein-Ansprüche. Das ist der gesunde Weg, das ist der wahre Weg, das ist der lebendige Weg, das ist der Weg des wahren Lebens.

Wenn du mit Jesus aussprechen kannst: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“[1], dann hast du das Reich Gottes gefunden, dann verwirklichst du Nirvana. Dann erkennst du auch, dass dieses Ziel niemals woanders gewesen ist als hier und jetzt. Du erlebst die Wahrheit, dass das von dir so lange und schmerzlich gesuchte Todlose in der wirklichkeits-gemässen Erkenntnis und im Akzeptieren des Todes besteht, das so tief ersehnte Leidlose in der wirklichkeitsgemässen Erkenntnis und im Akzeptieren des Leidens, das angestrebte Selbstlose in der wirklichkeitsgemässen Erkenntnis und im Akzeptieren de wahren Natur des „Selbst“. Und du weißt jetzt, was der Spruch dir sagen will: „Der Weg ist das Ziel“. Es existiert kein Ziel ausserhalb deiner selbst und keines ausserhalb der Gegenwart. Das Ziel ist das was ist, ist Soheit hier und jetzt, und diese Soheit, das „Ich bin der ich bin“, ist leer, ist vollständig leer, das heisst, es gibt in diesem Sosein keinen Besitzer und keinen Besitz. Das Ziel ist kein Besitz, es gibt niemanden, der es jemals besitzen könnte. Es gibt die Wirklichkeit hier und jetzt, und sie ist wie sie ist.

Es ist schön, wenn du das jetzt weißt. Du bist weder der Besitzer des Weges, noch besitzt der Weg dich, denn der Weg ist selbstlos, ohne ein Ich. Der Weg des wahren Lebens, das ist ein Bild für die Wirklichkeit des Seins.



[1] Bibel, Joh 14,6