Erleben

 



Zum (Mundart-) Lied
HIE U ITZ 
(CD "Uelis Schrot" 2007)


Lied:
LOBGESANG
b) Er-lebt

8       Erleben

 

Der leere Raum, das Gefängnis aus Glas. Das Leben hinter Glas, ausserhalb, getrennt von dir, unwirklich wie ein Traum. Es betrifft dich nicht, hat mit dir nichts zu schaffen. Du lebst in Isolationshaft, fern von deinen Mitmenschen.

Es gelangt durch die gläsernen Wände zwar Licht in dein Gefängnis, aber das Licht scheint kalt, leblos. Auch in deinem Innern ist nicht nur Finsternis, auch dort ist ein Licht, doch das Licht ist wie herzlos, ist kein Licht der Liebe. Der Schmerz, den du erlebst, ist über den Schmerz hinaus ein tiefes Leiden an deiner eigenen Existenz und am Sein überhaupt. Du weißt nicht warum es so ist, warum das Licht nicht wärmt und warum der Schmerz nicht einfach nur Schmerz, sondern tiefes existenzielles Leiden ist.

Das wahre Leben, das Lebenswasser, was soll das sein? Wie kann sich dieses wahre Leben dir geben? „Wer sucht der findet“[1], hat ein Gesalbter vor zweitausend Jahren gesagt. Wenn du das wahre Leben aufrichtig suchst, dann wird es sich dir offenbaren, es wird sich dir geben, du kannst es als ein Geschenk entgegennehmen. Denn machen kannst du es nicht. Suchen tust du es, indem du deine Herzenstüre aufschliesst und in dein Innerstes eingehst. Denn das wahre Leben ist nicht etwas oder jemand ausserhalb von dir, sondern es ist in dir, in deinem eigenen Inneren zu finden. „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“[2], hat derselbe Gesalbte gesagt. Also suche Frieden, Freiheit, Liebe nicht ausserhalb deiner selbst, suche nicht dort, wo es nichts zu finden gibt, suche an der Quelle, suche in deinem Herzen.

Je näher du der Quelle kommst, umso mehr Erinnerungen werden aufsteigen. Erinnerungen an längst Vergessenes, Erinnerungen an vor langer Zeit bereits Erlebtes. Diese Erinnerungen, vielleicht vage, ohne Worte, ohne Bilder, weniger formulierte als vielmehr gefühlte Erinnerungen, sind die Führer und Wegweiser auf deiner Suche. Was du suchst, Weg, Wahrheit, Leben, war stets da, hast du nie verloren, nur vergessen. Was du schliesslich findest, hier und jetzt findest, war immer da, immer frei verfügbar.

Es gab wahre, verwirklichte Menschen zu allen Zeiten. Christus gilt den Christen als ein solcher. Buddha den Buddhisten. Sie und viele andere waren und sind Repräsentanten von Liebe und Freiheit. Sie sind Wegweiser für dich. Ihr Wort kann Führung sein für dich, kann dir Leben bringen in dein Gefängnis. Ihr Wort, ihre Lehre, ihr gelebtes Vorbild vermögen dir Kraft zu geben, Mut, deine Türen zu öffnen und dieselbe Liebe, dieselbe Wahrheit in deinem eigenen Inneren zu finden und ausströmen zu lassen. Sobald das geschieht, steigt der Pegel des Lebenswassers in deinem Gefängnis und wird dich zur Freiheit führen, ins volle, wahre, echte, unverfälschte Leben.

Die Auferstehung aus dem Gefängnis des Todes geschieht in dir, an dir, mit dir, hier und jetzt. Sie ist der Lohn für deine mutige Suche, für deine Bereitschaft, die Herzenstüre zu öffnen, allen Risiken zum Trotz.

Er, der Gesalbte, er, der Erwachte, sie leben in deinem Herzen, und dort findest du sie. In deinem eigenen Erleben findest du sie. Sie sind nicht getrennt von dir. Sie sind dein Weg des wahren Lebens.

Der Weg ist nicht getrennt von deinen Schmerzen, weder von den körperlichen, noch von den psychischen. Mit dieser Erfahrung schwindet alles Leiden am Schmerz. Wenn selbst Schmerzerfahrungen, nicht anders als Wohl- und Glück-erlebnisse, zum Weg des wahren Lebens gehören, ja, der Weg des wahren Lebens sind, dann fällt der Widerstand gegen den Schmerz von dir ab und damit das existenzielle Leiden am Schmerz.

Du erlebst den Weg nicht als gesondert von dir. Er ist kein Geist, der von dir Besitz ergreift, kein von dir getrenntes Wesen innerhalb oder ausserhalb von dir. Der Weg, das bist du, als genau der Mensch, der du bist. Mit allen Freuden und allem Schmerz, mit allen Befähigungen und allen Mängeln und Schwächen. Sobald du ihn in dir erkennst, bist du eins mit ihm und mit dir selber. Dann freust du dich über deine Fähigkeiten und Kräfte ohne Überheblichkeit und du akzeptierst deine Begrenzungen und Schwächen ohne Verurteilung. Du bist wahrer Ausdruck des Lebens, du bist einer seiner Wege.

Das wahre Leben ist in dir und je mehr du darin aufgehst, umso mehr bist du eine Personifikation, eine Menschwerdung des Ewigen. Du bist es zu jeder Zeit, bist es niemals nicht gewesen, aber Dunkelheit lag über dem Weg, Lügen versperrten die Sicht auf die Wahrheit und die Angst vor dem Tod hinderte das Leben daran ekstatisch aufzusteigen. Leben und Tod lassen sich jedoch nicht trennen. Jedes Leben trägt seinen Tod in sich. Fürchtest du den Tod, dann fürchtest du auch das Leben, und fürchtest du das Leben, dann fürchtest du auch den Tod. Die wahre Freiheit aber ist ohne Anfang und ohne Ende. Sie ist deine wahre Heimat ohne jemals dein zu sein. Dein vergängliches, dem Tod unterworfenes Wesen wird niemals in dieses Reich eingehen, weder als Körper, noch als Seele, noch als Geist. Nur im Erwachen zu vollständiger Selbstlosigkeit verwirklicht es sich. Willst du es als Besitzender besitzen, dann entzieht es sich dir. Gib also jeden Anspruch darauf auf und lebe dein Leben hier und jetzt.



[1] Bibel, Mt 7,8

[2] Bibel, Lk 17,21