Du, der 'Ich bin'

 





Lied:
DU, DER ICH BIN


15     Du, der ‚Ich bin’

 

Ja, du befreist, du, der ‘Ich bin’

In mir in dir da liegt der Sinn

Verborgen tief im eig’nen Herzen

Bereit zum Lachen und zum Scherzen

 

Die Oberfläche ist so hart

Humorlos ernst und hungrig satt

Sie ist das Ich, das nicht ich bin

Und raubt dem Leben jeden Sinn

 

Doch du, der namenlose Eine

Der ‘Ich bin’ im eig’nen Scheine

Machst als der Lieb’ äonisch Wesen

Mich von falschem Ernst genesen

 

Du, der ‘Ich bin’, du gibst mir Kraft

Und schenkst mir Freude wesenhaft

‘Ich bin’ der Weg, die Wahrheit auch

Ich bin als Leben Gottes Hauch

 

Ich bin in dir und du in mir

Wir sind uns gegenseitig Zier

‚Ich bin’ die Liebe, bin der Geist

Ich bin das Ich, das du befreist [1]

 

Vor vielen Jahren, als ich in psychischem Leid (Depression)  eines  Nachts, ich  ging  nur noch nachts aus dem Haus, aus Angst vor den Menschen, draussen auf einer Waldlichtung zum Himmel schrie, ging mir die Bibelstelle durch den Sinn, in der Mose Gott nach seinem Namen fragt, und Gott antwortet, sein Name sei "Ich bin, der ich bin".[2] Ich realisierte damals im Wald, dass ich nicht einen Namen als blossen Namen, sondern viel mehr seine wahre Bedeutung anrufen sollte, und so schrie ich dort in der Stille der Nacht zum Himmel: "Ich bin der ich bin!", immer wieder, und mit einem Schlag wurde mir plötzlich bewusst, dass der Geist der Wahrheit  durch meinen eigenen Mund, in meinen eigenen Worten rief: "Ich bin der ich bin".

Ich bin der Mensch, der ich bin. Und so stimmt auch dies: Niemand kommt zum Ewigen als allein durch sein eigenes Sein. Und im eigentlichen Grunde besteht dieses „Ich bin“ im Entwerden der egozentrierten Ich-Verblendung, im Aufgeben und Erlöschen des Ich-Wahns, denn nur im Erlöschen der Selbstsucht besteht das umfassende Wesen des unver-gänglichen, todlosen Ganzen, das die Bibel der Christen „Gott“ nennt und der Palikanon der Buddhisten „Nirvana“. Erst wenn du dieses Du, das du ausserhalb deiner selbst wahrnimmst (personal oder phänomenal), als dein eigenes wahres Wesen erkennst, erst dann vermag es dich zur Freiheit zu führen und nur so kann es zu deinem „Erlöser“ werden.

Jesus ermahnte seine Nachfolger, dass sie, sollte jemand nach seinem Ableben behaupten: „Hier ist der Christus, oder dort“, es nicht glauben sollten, und wenn jemand sagen sollte: „Er ist in der Wüste“, so, sagte er, „geht nicht hinaus“, und wenn jemand sagen sollte: „Er ist in den Kammern dort“, so sollten sie es nicht glauben.[3] Dieselbe Wahrheit predigte er auch in Bezug auf die menschlichen Vorstellungen vom Reich Gottes. Oft habe ich gehört, dass in christlichen Gemeinden das Reich Gottes gebaut würde, das ist ein Unsinn, und Jesus sagt dazu: „Gehet nicht hin und laufet ihnen nicht nach“, denn „man wird nicht sagen: Siehe hier! oder: Siehe dort ist es! Denn das Reich Gottes ist inwendig in euch.“[4]

In dir selber, in deinem eigenen Herzen, in deiner eigenen Existenz ist alles zu finden, was es an Wahrheit, an Wirklichkeit überhaupt zu finden und zu entdecken gibt. Im selben Sinn ermahnte der Buddha seine Nachfolger, sie sollten nicht nach äusseren Autoritäten gehen, nicht nach heiligen Schriften, nicht nach blossen Vernunftgründen oder nach intellektuellen Grübeleien, sondern einzig und allein nach der eigenen Erfahrung, nach dem eigenen, als heilsam oder unheilsam erkannten Wirken und Erleben.

Auf dem Weg der Wahrheit des konkreten eigenen Lebens und Erlebens gibt es viel zu Lachen und zu Scherzen. Da ist kein Raum für trübsinnige, angstbeladene Frömmigkeit, denn das wirkliche Leben ist ein Feld für forschende Menschen die an einem Versagen oder einem Fehlverhalten nicht verzagen, die sich selber die Fehler und Irrtümer vergeben und immer wieder neu aufstehen und weitergehen können, in der inneren Gewissheit, dass genau dieses Leben und genau dieser eigene Lebensweg der wahre Weg des Lebens ist. Einen anderen als diesen – deinen – Weg des Lebens gibt es in Wahrheit für dich nicht.

Die Oberfläche deines Lebens, das ist die Oberflächlichkeit deines Erlebens. In dieser Oberflächlichkeit nimmst du alle deine Wahrnehmungen als bare Münze und lässt dich von deinen Vorstellungen über das Leben in die Irre führen. Das Leben ist dann hart, wenn du ein hartes, verschlossenes Herz hast. Dann wird das ganze Leben zum Leiden für dich. Das Leben ist wohl ernst zu nehmen, aber nicht zu ernst, nicht ohne Humor, denn ohne Humor ist das Leben nicht lebenswert.

Wenn du die tiefe Wahrheit deines Lebensweges noch nicht erkennst, wenn du noch nicht sehen kannst, inwiefern du selber der Weg, die Wahrheit und das Leben bist, dann bist du noch hungrig, dann bist du noch hungrig und durstig nach Wahrheit. Wenn dem so ist, dann rede dir nicht ein, keinen Hunger und keinen Durst zu haben, denn damit würdest du dich einer Illusion hingeben, und statt mutig und ausdauernd nach der Wahrheit zu suchen würdest du dir einreden bereits gefunden zu haben und satt zu sein. Auch das wäre eine Form von Oberflächlichkeit, und diese Oberflächlichkeit in Bezug zur Lebenswirklichkeit würde dich niemals sättigen, niemals deinen Durst löschen können.

All dein Körperliches und all dein Geistiges ist die Oberfläche des Seins, ist das, was du nicht bist. Wenn du dich damit identifizierst und in dieser blossen Oberfläche der Existenz das wahre Leben zu erkennen glaubst, dann wird dir aus dieser Identifikation immer wieder Leid entstehen, denn dann identifizierst du dich mit etwas Vergänglichem, mit etwas Leidunterworfenem. Du bist tatsächlich der Weg des wahren Lebens, aber weniger in den vergänglichen Aspekten, sondern weit mehr im Unvergänglichen, im Leidlosen, im Todlosen, und dieses ist nur zu finden im Selbstlosen. Die Oberfläche raubt als das, das du nicht bist dem Leben jeden Sinn nur solange, als du sie statt als das, das du nicht bist, als das anschaust, das du bist.

In „Die Kunst des Liebens“ schreibt Erich Fromm: „Gott kann keinen Namen haben. Ein Name bezeichnet immer ein Ding oder eine Person, etwas Bestimmtes. Wie kann Gott einen Namen haben, wenn er weder eine Person noch ein Ding ist?“ Fromm erläutert dann die Entwicklung des menschlichen Gottesbildes vom Bild des despotischen Stammeshäuptlings über das eines liebenden Vaters (wie bei Jesus) bis dahin, dass Gott sich aus einer Vaterfigur in das Symbol seiner Prinzipien verwandle, in ein Symbol für Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe. „Im Verlauf dieser Entwicklung“, schreibt Fromm, „hört Gott auf, eine Person zu sein; er wird zum Prinzip der Einheit hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen.“ Diesen Prozess macht das Gottesbild eines jeden Menschen durch, soweit er die unaufhörliche Verwandlung und Vertiefung seines Gottesbildes zulassen und geschehen lassen kann.[5]

Der namenlose Eine, die namenlose, in sich selbst leuchtende Einheit, kann nur im eigenen Herzen empfunden und erlebt werden, nirgendwo sonst. Im Erleben der Einheit, des Einigseins, des geeinten Herzens, liegt die Erfahrung des äonischen, also des zeitlosen, ewigen Wesens der Liebe. Dieses Erleben ewiger, zeitloser Liebe im einigen Herzen lässt dich von allem falschen Ernst bezüglich des alltäglichen wie auch des religiösen Lebens genesen und schenkt dir Freiheit für dein Wirken in dieser Welt. Keine Angst mehr vor Versagen, keine Furcht mehr vor Verurteilung und Verdammung, weil die Liebe nicht verurteilt und nicht verdammt.

Du selber bist die Antwort, die du lange suchend erfragtest. Das ist die eigentliche Umkehr, die du erleben kannst, dass aus der Wahrnehmung der Existenz als eine grosse und nicht zu beantwortenden Frage die Antwort wird. Der Prozess dahin geht langsam, Schritt für Schritt, und all dein Suchen und Irren ist darin einbegriffen, aber der Augenblick, in dem das Sein zur Antwort wird, der geschieht plötzlich, der ist das, was einige Religionen als „Erleuchtung“ oder „Erwachen“ bezeichnen. Du erkennst die Antwort auf all dein Suchen und Fragen in deiner eigenen Existenz, in deinem eigenen Erleben, und du erkennst dein Leben als „So-Sein“ und dich als „So-Gegangen“. Du weißt kaum, wie es geschehen konnte, dass, scheinbar urplötzlich, anstelle der existenziellen Frage nun die existenzielle Antwort da ist. Und wenn du versuchst, diese von dir hier und jetzt direkt erlebte Antwort, anderen mitzuteilen, dann bemerkst du eine schier unüberwindliche Schwierigkeit und du erfährst, dass die Antwort eben nicht in den Worten liegt, sondern einzig und allein im tatsächlichen Erleben.

Alle Dualität von Ich und Du, von Selbst und Anderem, von Mensch und Gott bleiben bestehen auf der Ebene der Sprache. Auf der Ebene des geeinten Herzens jedoch beschreiben sie alle einfach von verschiedenen Gesichts-punkten aus das Einigsein von Mensch und Mensch und von Mensch und Gott.

Das Einigsein bedingt nicht einer Meinung zu sein. Meinungen sind eine Frage des Verstandes, des Intellekts. Die Einigung des Herzens wird davon nicht berührt. Verschiedener Meinung zu sein, verschiedene Ansichten zu vertreten, auch verschiedene Ideologien und religiöse Überzeugungen, das führt ein in sich geeintes, in sich einiges Herz nicht in Streit und Krieg. Vielmehr lässt es die verschiedenen Ansichten als Ansichten stehen. Es weiss, es hat es erfahren, dass die Wahrheit nicht in Ansichten zu finden ist. „Eins ist die Wahrheit, nicht gibt’s eine zweite“, sagte der Buddha, „sie kennend wird der Mensch hierbei nicht streiten“.[6] Und Jesus sagte: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe“ und „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“.[7]



[1] Tagebuch, 16. April 2007

[2] Bibel, 2.Mose 3,14

[3] Bibel, Mt 24,23-26

[4] Bibel, Lk 17,21

[5] Erich Fromm: „Die Kunst des Liebens“ (Ullstein Materialien 1980)

[6] Palikanon, Sutta Nipata, Vers 884

[7] Bibel, Joh 18,37; Joh 8,32