Hingabe

 



14     Hingabe

  

Gott ist ohne Anfang und ohne Ende. Er ist Sinnbild von Ursprung, Sinn und Ziel alles Zeitlichen. Alles Zeitliche kommt aus einer nicht zu ergründenden Anfangslosigkeit und wenn es vergangen ist, bleibt dieses Anfanglose als zugleich Endloses übrig. Ich sehe Gott als die Personifizierung des zeitlosen Seins. Der Buddhist nennt dieses Anfanglose und Endlose, dieses Ungeborene und Unsterbliche, „Nirvana“. Diesem Sein jenseits von Zeit und Raum überlasse dich. Dieses unvergängliche Sein allein ist frei von Leiden.

In der Zeitlosigkeit des Seins liegt die Unmittelbarkeit des Erlebens. Hier ist kein egozentrischer Wille, der sich den Seinsgesetzen widersetzt und mit ihnen auf Kriegsfuss steht. Hier ist nur Soheit, Sosein. In diesem Sosein geschieht das gesetzmässig Notwendige und darin Not wendende wie von alleine. So wirkt Gott durch dich das, was ihm gefällt, und das heisst, das Gute, Schöne und Wahre.

Wann immer durch dich Gutes, Schönes und Wahres geschieht, dann erfüllt dich dieses Erleben mit Dankbarkeit. Auch wenn es schwer war für dich, auch wenn es schmerzhaft war: Siehst du Güte, Schönheit und Wahrheit darin entstehen und daraus hervorgehen, dann erfüllen dich Freude und Dankbarkeit.

Du bist nur dann in der Lage wirklich alles anzunehmen, was dir widerfährt, wenn du siehst und klar erkennst, dass dies alles in der Wahrheit geschieht, auf dem Weg des wahren Lebens. Wenn all dein Erleben deinem anfangslosen Urgrund entspringt und alle deine Reaktion darauf von Güte und Wahrheit geleitet ist, dann gibt es keinen Grund für Reue und für Selbstanklagen. Dann geschieht alles, was geschieht, gesetzmässig, im Geist der Wahrheit, dann ist es in Gott getan. Und im Grunde kannst du gar nichts ausserhalb Gottes tun, denn „in ihm leben, weben und sind wir“.[1]

Wenn dein Wille kein egoistischer, kein egozentrierter ist, der für sich alles Gute, Schöne und Wahre will, während ihm die andern Menschen, alle die weiteren Geschöpfe der Schöpfung – pardon – am Arsch vorbei gehen, dann entspricht dein Wille dem Willen Gottes, dann entspricht er den Gesetzmässig-keiten des Seins. Daran kannst du arbeiten. Du kannst es lernen, deinen Egowillen vom grösseren umfassenderen Willen für das Ganze zu unterscheiden und dich in jedem konkreten Einzelfall dafür zu entscheiden, deinen ich-zentrierten Willen dem Willen nach Güte, Schönheit und Wahrheit für die gesamte Schöpfung unterzuordnen. Das ist echte Herzenskultur. Und eines Tages wirst du bemerken, dass nur noch eine grosse Sehnsucht in deinem Herzen wohnt: Die eine grosse Sehnsucht nach endgültigem Frieden und unverlierbarer Freiheit für alle Wesen.

Deine Seele, das ist deine Bedürftigkeit als ganzer Mensch. Deine Seele ist ein Bild für dein Erleben von Mangel in dieser Existenz. Dieses Mangelerleben, diese deine Bedürftigkeit lege vertrauensvoll in die Hände des Ewigen, des zeitlosen Seins. All deine Erinnerungen an Erleben von Mangel in deiner Vergangenheit und all deine Vorstellungen und Ängste bezüglich Bedürftigkeit in der Zukunft lege vertrauensvoll in die Hände der Gegenwart, in die Hände des zeitlosen Seins hier und jetzt. Hier und jetzt ist der Weg des wahren Lebens real, und wenn irgendwann und irgendwo deine Seele, deine Bedürftigkeit gestillt werden kann, dann hier und jetzt, in dieser Gegenwart.

In dieser Gegenwart hier und jetzt liegt dein Heil, liegt deine Freiheit, liegt aller Frieden des Seins. Wenn du die Befreiung aus der Bedürftigkeit, aus dem Mangelerleben nicht hier und jetzt finden kannst, dann wirst du sie nirgendwo und niemals finden können, denn alle Zeit ist im Augenblick ihrer Wirklichkeit und Wirksamkeit hier und jetzt. Richte also alle Liebe deines Herzens die dir nur irgend möglich ist, nirgendwo anders hin und in keine andere Zeit, nicht in Vergangenheit und nicht in Zukunft, als nur in die Zeit jetzt und in den Raum hier. Vermagst du dein Hier und Jetzt, alle deine Mitmenschen und Mitwesen, alle deine Erlebensräume und Lebens-situationen nicht liebevoll anzunehmen und zu akzeptieren, wie willst du es dann mit den Dingen, Wesen und Situationen tun können, die aus der Zukunft kommend für dich zur Gegenwart werden?

Hierin darfst du nun bedenkenlos masslos sein. Gib’ alle deine Liebesfähigkeit ins Hier und Jetzt. Es ist egal, was gestern und vorgestern gewesen ist. Es ist egal, was morgen und übermorgen sein wird: „Sorge dich nicht um den morgigen Tag“, sagt Jesus in der Bergpredigt.[2] Das einzige Leben, das du wirklich hast, findet hier und jetzt statt, ausschliesslich hier und jetzt. Sei masslos in der Hingabe deiner selbst an die Notwendigkeiten der Gegenwart. Sei masslos in der Hingabe deines kleinen Ichs mit seinem egoistischen Willen an das grosse, anfangs- und endlose „Ich bin“ mit dessem umfassen-den allheitlichen Willen für die Freiheit und den Frieden des Ganzen.

Das grenzenlose Vertrauen ist kein blindgläubiges Vertrauen in Glaubenssätze und religiöse Dogmen. Das grenzenlose Vertrauen erwächst aus der tiefen Einsicht in die Wirklichkeit des Seins. In dieser Einsicht werden dir die Wahrheit der Vergänglichkeit, der Leidunterworfenheit und der Selbst-losigkeit deiner und aller Existenz bewusst und du erkennst die allseitige Bedingtheit und Abhängigkeit deiner persönlichen Existenz von allem deine Existenz umgebenden Existieren-den. Du erkennst die Allheit, die All-Einheit des Seins. In dieser Erkenntnis wird dir vollkommen klar, dass das Leben niemals den Sinn haben kann, dir alle deine egoistischen Wünsche und Begehrlichkeiten zu erfüllen. Du erkennst, dass das Leben, auch dein Leben, einen viel grösseren und umfassenderen Sinn hat, als du dir je erträumen konntest. Mit Freuden und mit grosser Dankbarkeit weißt du dich geborgen in Gott, weißt du dich getragen vom Dharma, dem Tragenden, dem Gesetz des Seins.


(Mundart-) Lied:
SCHPUURE IM SANG
(DänUeli)
(M: Ueli / T: Margaret Fishback Powers)

Wo der Anfang ist, da ist auch das Ende. Aus dem Anfangslosen, dem Zeitlosen bist du gekommen und das Zeitlose, Endlose wird bleiben, wenn du das Zeitliche gesegnet haben wirst. Es ist dein Vater, ist deine Mutter. Dort fanden deine Zeugung statt und deine Geburt. Im Prozess deiner Menschwerdung gelangtest du zum mystischen Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, und du wolltest die Fähigkeit der Erkenntnis erlangen. Du hast sie erlangt, und sie hatte einen hohen Preis: Die Unmittelbarkeit des Erlebens war der Preis. So wurde die Frucht des anderen mystischen Baumes, des Baumes des Lebens, für dich beinahe unerreichbar.[3]

In der Zeitlichkeit umherirrend suchtest du schon bald das ewige, das zeitlose Leben. Du erkanntest, was der Preis war für die Erkenntnis, aber du erkanntest auch, dass die Vertiefung der Erkenntnis, die tiefe Einsicht in die Gesetz-mässigkeiten all dieses Geschehens, die Transzendierung der Erkenntnis von Gut und Böse bedeutet und dich zum Baum des Lebens würde zurückführen können. „Wer überwindet, dem will ich zu essen geben vom Baum des Lebens, welcher im Paradiese Gottes ist“, sagt der Christus in der Offenbarung des Johannes.[4]

Die Überwindung der Erkenntnis durch Erkenntnis ist der Sinn des ganzen symbolhaften biblischen Geschehens zwischen Paradiesvertreibung und Erlangung des ewigen Lebens. Nichts davon geschah in der Vergangenheit, nichts davon wird in der Zukunft geschehen: Alles dies vollzieht sich hier und jetzt in deiner eigenen Existenz und es bedeutet den vollkommenen Frieden und die vollkommene Freiheit des Seins. Dieser Friede, diese Freiheit, das ist der Vater. Du kannst sie auch Mutter nennen, oder Natur, oder Leben, oder wie immer dein Herz dir zuflüstert. Um das Wesen geht es, nicht um den Buchstaben.



[1] Bibel, Apg 17,28

[2] Bibel, Mt 6,24-34

[3] Bibel, 1.Mose 2-3

[4] Bibel, Offb 2,7