Rad der Zeit

 




9       Rad der Zeit

 

Wenn du in der Blüte des Lebens stehst, als Jugendlicher, voll im Saft, voller Hoffnungen und Erwartungen an das Leben, dann wird es dir möglicherweise schwer fallen, meine Aussagen zu verstehen. Was denkt der Frühling an den Herbst? Dennoch: Mancher junger Mensch, und so ist es auch mir ergangen, erlebt mitten im Frühling bereits den ersten Herbst, den ersten Winter, das erste Sterben. Dann, wenn er die Liebe gefunden zu haben vermeint und sie nur wenig später bereits wieder verliert. Das ist Sterben, Tod. Da fallen die Blätter vom Baum des Lebens und nackt steht er da, leblos, starr.

Wenn du eine Herbstzeit erlebst, dann kämpfe nicht dagegen an, es ist umsonst. Lass los. Wenn der Wind des Schicksals an deinem Sein rüttelt und dir die Kleider und allen Schmuck vom Leibe reisst, dann sei bereit nackt dazustehen. Versuche nicht einen Anschein von Leben aufrechtzuerhalten, denn Totes, das sich einen Schein von Leben verpasst, ist hässlicher anzuschauen als ein eingestandenes Sterben das sich dem Prozess der Loslösung hingibt ohne Widerstand. Lass deine alten Lasten los, auch wenn sie einst noch so schön in Blüte gestanden sind. Vergänglichkeit, Sterben, Tod sind Charakteristiken des wahren Lebensweges. Verweigere dir die Einsicht in diese Wahrheit nicht.

Wenn das Rad der Zeit dich in den Wahnsinn treiben will, dann suche das Auge des Hurrikans. Gehe in dich. Dort kannst du Stille finden, Ruhe, Zeitlosigkeit. Lass dich nicht hetzen und hetze dich selber nicht. Lieber gib diesen oder jenen Lebensanspruch, dieses oder jenes Verlangen auf und komm zur Ruhe. Im Zeitlosen wirst du einen Schatz finden, dem keines der zeitlichen Dinge das Wasser zu reichen vermag. Das Rad der Zeit dreht sich schnell und immer schneller: Gib auf dich acht, lass dich nicht verheizen. Komm zur Ruhe. Führe ein besonnenes, ein bewusstes Leben. 

Jeder hat eine Geschichte, seine ganz eigene, ganz persönliche Geschichte. Es gibt Milliarden von Lebens-geschichten. Nimm die deine nicht zu wichtig. Schau nicht zu oft und nicht zu tief in deine Vergangenheit und vor allem: Bleibe nicht an ihr hangen! Die Vergangenheit, ganz egal wie sie war, ist vorbei. Schon das Gestern, schon das Vorhin sind vorbei. Bleibe nicht an irgendetwas Vergangenem kleben, weder an Gutem, noch an Schlechtem. Das Leben ist unaufhaltsame Veränderung, und wenn du an irgendeinem Aspekt des Lebens haften bleibst, dann lebst du nicht mehr, dann stirbst du nur noch. Wenn du zu sehr in deine persönliche Geschichte schaust, dann siehst du nur noch Vergangenes und das eigentliche Leben hier und jetzt entgeht dir. Wenn dich deine Vergangenheit in ihren Klauen hält, dann gibt es nur eines: Lass alles Alte vergehen, denn nur so kann etwas Neues entstehen.

Wenn du nicht bereit bist, Altes loszulassen, dann wird sich dir auch nichts Neues eröffnen. Damit Neues entstehen kann, muss Platz geschaffen werden. Wenn Neues überhaupt gesehen werden will, dann ist dies nur möglich, indem vom Vergangenen abgesehen wird. Lass Altes los, immer und immer wieder, dein ganzes Leben lang. Wenn du wahres Leben erleben willst, dann halte nicht an Vergangenem fest, denn Vergangenes ist niemals wahr, niemals wirklich. Vergangenes existiert nur in deiner Vorstellung, nicht in der Wirklichkeit hier und jetzt. Leben, wahrhaft und echt leben, kannst du aber nur hier und jetzt. Lebe nicht ein Leben in der Erinnerung an vergangene Begebenheiten, lebe nicht ein Leben in der Vorstellung erwünschter zukünftiger Ereignisse, lebe ein Leben in der Wirklichkeit hier und jetzt. Und wenn Neues wachsen und entstehen soll, dann kann auch dies nur hier und jetzt geschehen, nicht morgen oder übermorgen. Wenn du das Neue des Heute nicht zu sehen vermagst, wieso solltest du dann das Neue morgen erkennen können? Lass die Vergangenheit los und ergreife auch nicht Zukunftsphantasien.

Es ist unmöglich Zeitliches loszulassen solange du dich mit Zeitlichem identifizierst. Wenn du aber diese Identifikation lösen kannst, wird alles möglich. Identifiziere dich nicht mit deiner Geschichte, du bist in Wahrheit viel mehr und etwas ganz anderes als sie. Wenn du die Ewigkeit findest, dann wird dein Zeitliches belanglos. Es gehört zum Leben, deine persönliche Geschichte gehört zu deinem Leben, ist aber nicht wichtiger als alles Zeitliche, alle persönlichen Geschichten aller deiner Mitmenschen auf diesem Globus. Nur wenn du dich loslässt, kannst du wirklich zu dir kommen.

Gib all dein zeitliches Leben, dein ganzes vergängliches Sein dem Unvergänglichen, dem Zeitlosen hin. Vertraue dem Zeitlosen und du wirst einen neuen Frühling erleben, in unvergleichlichem Glanz. Du wirst ihn geschehen lassen ohne Anhaften, du wirst ihn auch wieder vergehen lassen, er wird in den Sommer übergehen, dieser in den Herbst, der in den Winter, und das Rad des Lebens von Geburt zu Tod und von Tod zu neuer Geburt, wird dich nicht mehr aus der Bahn werfen, wird dich nicht mehr erschüttern, weil du in diesem Zyklus die Wirklichkeit zu sehen vermagst. Du wirbelst nicht mehr hilflos herum im Hurrikan, du stehst ruhig im Auge des Zyklons und siehst das Entstehen und Vergehen alles Zeitlichen in deinem Erleben, innen wie aussen.

Der gekreuzigte Gesalbte ist Symbol für die Hingabe der persönlichen Geschichte und der ichzentrierten Erwartungen an das Ewige. Alles Ich und Mein muss sterben damit das Ichlose und Selbstlose geschehen kann. Das Sterben der egoistischen Vorstellung „Ich in der Welt“ ist nicht leicht, und je mehr du an dir und an dir selbst hängst, umso schmerzhafter ist dieser Tod des egozentrierten Ichs. Der Weg, die Wahrheit und das Leben, das bist du nicht nur als die vergänglichen, zeitlichen Aspekte deines Wesens, sondern mehr noch als das Unvergängliche, Todlose, Selbstlose. Um das Anfangslose und Endlose zu erfahren lass alles Gewordene und Vergehende los.

Dieses neue Leben ist das Leben ohne Anfang und Ende. Ohne Anfang und Ende meint nicht eine unendliche lineare Zeitdauer, ohne Anfang und Ende meint zeitlos. Dieses zeitlose, nicht am Ablauf der Zeit sich orientierende Leben, ist das ewige Leben hier und jetzt. Ewigkeit ist nur hier und jetzt wirklich, nur hier und jetzt erlebbar. Sie ist das Erleben im Auge des Hurrikans. Diese zeitlose Zeit ist hier und jetzt da. Das ewige Leben hat eine vollständig andere Qualität als das zeitliche Leben. Beides kannst du erleben. Beides kannst du nur hier und jetzt erleben.

Das Irdische Geschehen hat sich nicht verändert, ist sich gleich bleibend in allem Schönen und allem Schrecklichen, aber deine Wahrnehmung des Irdischen ist anders geworden, eine erwachte, eine erleuchtete Sicht auf die Wirklichkeit hast du kennen gelernt, und auch wenn du diese Sicht vielleicht immer wieder auch verlieren wirst, der Zugang zu ihr wird dir stets offen bleiben. Das Leben wird dir nie wieder als eine Verdammnis erscheinen, der Schein des Heiligen wird stets auf ihm ruhen, weil du es nie mehr anders wirst sehen können denn als den Weg der Wahrheit.