Auf Erden, im Himmel und im All

 




17     Auf Erden, im Himmel und im All

 

Es ist herrlich, bei klarem Wetter auf einem Hügel im Emmental zu stehen, umgeben von Wald und von sanften Geräuschen, die nicht von Menschen stammen. Sonne auf der Haut, Wind im Haar, Vogelrufe im Ohr. Der Blick schweift über schier endlose Wälder und Hügel bis zu den schneebedeckten Bergen des Berner Oberlandes auf der einen und über den Jura hin auf der andern Seite. Der Himmel tiefblau, immer wieder kreisen am Firmament Raubvögel über dir. Und dein inneres Auge schaut weiter, durchbricht die scheinbare Grenze des Himmels, gelangt zur Schau des Alls und erkennt staunend die Unendlichkeit des Raumes und die Zeitlosigkeit des Seins.

Die Gesetzmässigkeiten des Seins als die alles durch-wirkende eine Wirklichkeit. Staunend, ohne Worte, stehst du da in der Unmittelbarkeit des Erlebens. Dann beginnt sich dein Verstand, der für die Dauer der Zeit dieses unmittelbaren Erlebens vollkommen still geworden war, wieder zu regen und stammelnd oder ekstatisch überwältigt sprechen dein Herz und vielleicht auch dein Mund ein Wort. Ich weiss nicht, welches Wort dein Herz in solchen Momenten formt. Vielleicht ist es das Wort „Gott“, vielleicht ist es das Wort „Leben“, vielleicht das Wort „Mutter“, vielleicht das Wort „Dharma“ und vielleicht ist es kein verständliches Wort einer bestimmten Sprache, sondern eher ein Laut, dessen Bedeutung in der Tiefe des Erlebnisses besteht. Welches Wort auch immer über deine Lippen kommt, und auch wenn dein Herz auf jedes Wort verzichtet, es ist die Beschreibung des Höchsten und Erhabensten das du kennst und dir vorstellen kannst. Es ist die Erfahrung des Seins, der Soheit, des „Ich bin der ich bin da“.

In den heiligen Büchern der Menschheit findest du das Erlebnis wieder, in vielfältigen Formen, Bildern, Symbolen und Sprachen beschrieben. Das Studium der mystischen, spirituellen, philosophischen Schriften der Menschen bestätigt dein Erleben und du erkennst, dass du darin keineswegs ein Einzelfall, keine Ausnahmeerscheinung bist. Der Mensch ist grösser und weiter als es sein enger und kleiner Körper ist. Erfahrungen sind ihm möglich, die grenzenlos sind, unendlich, zeitlos, ewig. Lerne aus deinen eigenen Erfahrungen und auch aus den Berichten über die Erfahrungen anderer Menschen aus allen Kulturen und Zeiten. So wird dein Leben und Erleben weit über jede starre Abgrenzung von Kultur, Rasse, Religion, Erziehung usw. hinauswachsen und das Erleben der Einheit des Seins wird Realität.

Es ist das wahre Sein, das du erlebst, nichts anderes. Es ist das, was die Bibel Gott nennt, das dich anspricht durch alle Existenz. In der Bibel finden sich unzählige eindrückliche Gleichnisse für dieses Angesprochenwerden des Menschen durch Gott. Eines der mir liebsten Bilder ist das Bild des brennenden Dornbuschs, durch den Gott Mose seinen Namen kundtut als „Ich bin der ich bin da“. In einem anderen schönen Gleichnis spricht Gott, die Wirklichkeit des Seins, einen alttestamentlichen, in einer Höhle sich versteckt haltenden Propheten nicht durch ein lautes Donnergrollen an, sondern durch ein kaum wahrnehmbares Säuseln des Windes.[1] Jesus, der heimatlos auf einer Reise in einem Stall geborene, spricht von der schlichten Schönheit der Natur, die alles menschliche Wollen und Wirken überragt.[2] Die Wirklichkeit ist die Wahrheit, ist Soheit, und auch du bist in deiner Wirklichkeit Wahrheit, bist Soheit, bist als der du bist da.

Ein Szene-Restaurant in Burgdorf: Ein Sammelsurium menschlicher Existenzen. Ein Spiegel unserer Kultur. Alkohol und Drogen im Kleinen als Spiegelbild und Gleichnis der menschlichen Kultur im Globalen. Die Suche nach Frieden und Freiheit, nach lieben und geliebt werden, hier wie dort. Und auch das Absinken in Sucht, in Streit, Gewalt und Krieg hier wie dort. Die mit dem Finger zeigen auf jene sind die, die sich nicht wiedererkennen in ihnen. Der Palikanon[3] beschreibt den reifen Menschen als einen Menschen, der sich selber in allen anderen wiedererkennt.[4] Was auch immer du zu sehen und zu erkennen glaubst in anderen Menschen, das bist du auch selber, das spiegelt dir dein eigenes Menschsein. Aus diesem Grunde mahnte Jesus eindrücklich: „Verurteile nicht, auf dass du nicht verurteilt werdest“.[5] Er selber kam als urteils- und vorurteilsfreier Mensch, als allen Vergebender, mit allen sich Versöhnender. Darin folge ihm nach und so nimmst du dein Kreuz, das Kreuz des Lebens, auf dich und gehst den Weg des wahren Lebens.


Lied:
EWIGKIND

Hier in dieser leid- und todunterworfenen Welt findest du den Weg des wahren Lebens, hier nimmt er seinen Anfang und hier findet er seinen Abschluss. Wenn du den Weg des wahren Lebens erkannt hast und willentlich und bewusst gehst, dann erkennst du, dass nur das Ganze all-eins sein kann, niemals das Einzelne. Du bist nie alleine, denn du bist umgeben und durchwoben von einer unendlichen Vielzahl von Lebewesen. Sobald du dieses Netz der Bedingtheiten siehst, weißt du dich vollständig eingebettet in ein Ganzes, in das Alleinige, in das All-Eine. Und so ermahnte Paulus die Menschen „dass sie den Herrn suchen sollten, ob sie ihn wohl spüren und finden möchten, da er ja nicht ferne ist von einem jeglichen unter uns; denn in ihm leben, weben und sind wir, wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: ‚Wir sind auch seines Geschlechts.’“[6]



[1] Bibel, 1.Kön 19,9-13

[2] Bibel, Mt 6,26-29

[3] Palikanon: Älteste schriftliche Überlieferung des Buddhismus

[4] Palikanon, Digha Nikaya 33 (Vier Unermesslichkeiten)

[5] Bibel, Lk 6,37

[6] Bibel, Apg 17,27-28