Der gute Hirte

 




12     Der gute Hirte [1]

 

Sobald du die Gesetzmässigkeiten erkennst, den Widerstand gegen sie aufgibst und dich ihnen einfügst, erlebst du sie als dir dienend, dich behütend, dich führend. Der Buddha nennt das Gesetz des Seins „Dharma“, das „Tragende“. Das Gesetz des Seins trägt dich, deine Existenz, alle Existenz. Es ist der Herr über Leben und Sterben. Du kannst dagegen aufbegehren, dich dagegen stemmen, es als ungerecht verurteilen, es bekämpfen oder es auszutricksen versuchen, du wirst damit nichts anderes erreichen als eine Zunahme der Unbefriedigung und Leiderfahrung in deinem Leben.

Diesen persönlichen Kampf gegen das Gesetz des Seins nennen gottgläubige Menschen Ungehorsam gegen Gott. Dieser Ungehorsam schafft Leiden. Das ist eine Realität und hat nichts mit der veralteten Wortwahl heiliger Schriften zu tun. Du brauchst das Gesetz, die Gesetzmässigkeiten des Seins nicht zu personifizieren, brauchst sie nicht als Gott, Herr oder Vater personal vor dich hin zu stellen. Wenn du das nicht tust, ändert das aber nichts an der Tatsache, dass deine Existenz getragen wird von existenziellen Gesetzmässigkeiten. Es ändert auch nichts daran, dass deine Weigerung, dich den Gesetzmässigkeiten einzufügen, dich leiden macht. Wenn du denkst, du könntest der Schwerkraft trotzen und dich über eine Felswand hinausstürzen, dann wirst du auf den Felsen im Tobel zerschellen. Du wirst nicht fliegen. Je genauer du jedoch die Gesetze des Seins kennenlernst und dein Leben von ihnen tragen lässt, desto leidloser und freier lebst du. Das bedeutet auch das biblische Wort vom Gehorsam gegenüber Gott.

Die Gesetze, das sind nicht die zehn Gebote oder andere menschliche Forderungen. Menschliche Gesetze können dir allerdings auch behilflich sein, nämlich darin, ein gutes Leben zu leben innerhalb der Kultur, der Gesellschaft in der du lebst. Die Seinsgesetze sind aber weitaus existenzieller als jedes menschengemachte Gesetz. Prüfe gut, ob ein Gesetz menschlich ist oder existenziell. Gerade im religiösen Bereich schreiten menschliche Gesetze und Forderungen gerne und häufig im Kleid des Göttlichen und Gottgewollten einher. Gesetze des Seins gibt es im Übrigen nicht nur auf der physikalischen, sondern genauso auch auf der immateriellen Ebene. Manchmal bilden menschliche Gesetze solche existenzielle Gesetzmässigkeiten ab. Verwechsle auch nicht das Original mit dem Abbild. Nicht Abbilder sind es, die dich tragen, sondern nur die Originale. Die Seinsgesetze sind dein Hirte genau insoweit, als du sie erkennst und dich von ihnen tragen lässt.

Wenn du dich tragen lässt, die Gesetze des Seins dir dienen lässt, dann wird dir an nichts mangeln. Das bedeutet nun nicht, dass du zwingend reich an Gütern sein wirst. Das Mangelerleben entsteht in der Spaltung zwischen der Wirklichkeit wie sie ist und deinem die Wirklichkeit zurück-weisenden Verhalten. Die Wirklichkeit wie sie ist willst du nicht, etwas anders aber willst du. Das ist Mangelerleben und darin besteht die eigentliche Leiderfahrung. Es geht hier nicht um das körperliche Schmerzerleben: Körperlicher Schmerz und psychisches Leid sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Psychisches Leiden ist die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und deinen Vorstellungen wie sie sein sollte, also Mangelerleben. Eine Psyche, die keinen Mangel erlebt, leidet nicht. Die Hingabe an die Gesetzmässigkeiten des Seins befreit vom Erleben von Mangel, befreit vom Leiden. Klarbewusst und gewollt im Gesetz zu leben bedeutet den Weg des wahren Lebens zu gehen, ja, ihn zu sein.

Wenn dein Weg dich entlang von Abgründen führt und durch gläserne Gefängnisse hindurch, dann bist du auch in Finsternis und Isolation furchtlos, denn dein Weg ist das Sein als der Weg des wahren Lebens. Da gibt es keine Verurteilung, keine Verdammnis, keine ewige Verlorenheit, keine nie endende Qual als Strafe für deinen Irrtum. Da gibt es nur das Aufzeigen von Irrtümern und darin die Chance sie als solche zu erkennen und zu überwinden. Das ist die grösste Hilfe für jeden Menschen: Das Wissen darum, dass der Weg des wahren Lebens stets da ist und jederzeit erkannt und realisiert werden kann.


(Mundart-) Lied: 
ÄR ISCH ZUE MIR CHO
(DänUeli / Ken Hensley)

Das Wasser und das Brot des Lebens sind jederzeit griffbereit. Selbst mitten in einem feindlichen Angriff erlebst du keinen Mangel, keine Verwirrung. Der Strom des gesetzmässigen Lebens hat dich erfasst, du schwimmst frei in ihm ohne Mangel, ohne Leiden. Feindselige Attacken können dieser Wahrheit nichts anhaben. Solltest du selbst alle Güter verlieren, sogar das Leben, dann hast du damit nur ohnehin Vergängliches verloren. Du fürchtest dich nicht davor, Vergängliches zu verlieren, weil du an nichts Vergänglichem mehr anhaftest. Du schaust das Unvergängliche, Leidlose, Todlose, und von daher beziehst du dein Leben, das wahre, das „ewige“ Leben.

Das Todlose, ist nicht an ein Ich gebunden, es kennt kein Ich, kein Selbst, keinen Besitzer und keinen Besitz. Du wirst sterben, dein Ich und dein Selbst, ohnehin niemals wirklich, werden nirgendwo hingehen. Dieser Wahn erlöscht und was bleibt ist nichts von dem, was jemals vergänglich war, was bleibt ist nur das, was immer schon war und niemals entstanden ist: Das Unentstandene und Unvergängliche, das Leidlose und Todlose.



[1] Bibel, Psalm 23