Weinendes Kind

 




1       Weinendes Kind


Draussen scheint die Sonne nun plötzlich klar…


Bin kein Weiser nicht heilig 

auch nicht erwachsen

oh Mensch!

und will es nicht sein

 

In diesem Moment bin ein weinendes Kind 

ich in der Stadt

hab’ die Mutter verloren allein steh’ ich da

versunken in meine Tränen

 

Vor mir die Zeiger der Uhr sie wandern

tickend ohn’ Unterlass 

nie Rast nie Ruhe 

die Hetze geht weiter


Gewimmel-Getümmel

vorbei an weinenden Kindern

vorbei an lebenden Toten

vorbei an Tränen von gestern

und  Träumen von morgen

vorbei am suchenden Menschen

 

Die Sonne

- so kurz geh’n Momente -

ist weg

 

Des Himmels blau gewandelt ist’s grau

lässt Tränen tropfend in Träume hinein

die Quelle versiegen

und trocknen die Erde rein

 

Weinende Kinder -

siehst du ihre Tränen nun wirklich nicht?

 

Da sitz’ ich also

- ein Kind - dieser Stadt

das Weinen ver-siegt die Augen noch rot

schau’ ich um mich und sehe die Not

 

Kinder - nur Kinder -

im reissenden Strom der Tränen und

über den Wassern

der Traum ist tot [1] 

                         

Eben noch bestätigten das Grau des Himmels und der Regen deine depressive Grundstimmung und du fühltest dich berechtigt im Trüben zu fischen und dem Dunkel zu frönen. Aber schon scheint draussen die Sonne und nun bist du allein mit dem Dunkel in deinem Innern und die Klarheit aussen erscheint als eine Anklage gegen dein Fischen im Trüben. Du wirfst die Anklage zurück an die Sonne und an die fröhlichen und lachenden Menschen um dich herum. Was müssen sie auch so scheinheilig tun als wäre das Leben nur eitel Sonnenschein? Sonne und Freude erkennst du als Heuchelei, als Leugnung des Dunkeln und des Trüben das du erlebst. Draussen scheint die Sonne nun plötzlich, klar…

Du weißt, es ist nicht weise, im Trüben zu fischen. Du weißt, es ist nicht heilig, Sonne und Freude der Heuchelei und der Lüge zu bezichtigen. Du weißt, es ist kindisch, dich so zu verhalten und dein kindischer Trotz sagt: „Genau so will ich es: Ich will weder weise, noch heilig, noch jemals erwachsen sein! Mit eurer lächerlichen Pseudofröhlichkeit habe ich nichts zu schaffen und von der Sonne lasse ich mich nicht mehr zu einer Hoffnung verleiten die im unvermeidlich kommenden Regen nur wieder ersäuft wird.“

Deine Arroganz, deine Aggression, deine Wut gegen alles Gute, Schöne und Wahre wurzeln in tiefen Enttäuschungen und Verletzungen eines hilflosen Kindes. Das bist du: Ein weinendes Kind, schreiend, wütend um sich schlagend in der grossen anonymen Stadt. Im Angriff dein Angegriffensein verbergend.

Es ist dir peinlich. Du hast gross angegeben, wie du weder weise, noch heilig, noch erwachsen sein wollest, und nun klagst du die Sonne und die Freude der andern Menschen an und nennst sie Lügner und Heuchler. Es ist wahr: Du hast die Mutter verloren. Vielleicht hat sie dich verlassen, aber wahrscheinlicher noch hast du sie verlassen. Doch wie auch immer: Es ist genau richtig so. Hättest du dich entschieden weise, heilig und erwachsen zu sein, dann würdest du keine Verlassenheit erleben, so aber willst du die Verantwortung für dein Leben nicht übernehmen und belässt sie stattdessen bei deiner Mutter. Nun ist die Mutter fort und mit ihr die Verantwortung für dein Leben. Ja, was jetzt? Da ist ein Leben, dein Leben, dein Erleben, und keiner ist dafür verantwortlich. Was jetzt?

Du bist allein. Diese Erfahrung, dieses Erleben ist existenziell. Du bist allein. Mitten im Menschengewühl einer Grossstadt dieser Erde – es kann auch ein kleines Dorf sein, das macht keinen Unterschied – bist du vollkommen allein. Darin  erlebst du Wahrheit. Deine Tränen aber kommen nicht aufgrund des Alleinseins, sondern aufgrund der Erfahrung von Einsamkeit. Dass du allein bist, das ist wahr, das ist echt, und wärest du bereit, weise, heilig und erwachsen zu sein, dann würdest du das Alleinsein als eine Gnade und einen Segen erleben. Aber du bist es nicht, bist nicht weise, nicht heilig, nicht erwachsen und willst es auch nicht sein. Also übernimmst du nicht die alleinige Verantwortung für deine Existenz und so bist du nicht nur allein, sondern zudem auch noch einsam. Die Erfahrung der Einsamkeit entsteht in deiner Zurückweisung der Verantwortung. Verantwortungslos stehst du da, versunken in deine Tränen. Einsam ausgeliefert dem Ablauf der Zeit. Wozu? Wohin? Äonen verstreichen, nichts ändert sich.

Ameisenmenschen um dich herum. Die Zeit, gerade eben innerlich erlebt noch äonisch langsam zerrinnend, jetzt, aussen erkannt, in wahnsinnigem Zeitraffertempo dahin-hetzend, hält dich zum Narren. Sie gaukelt dir vor sie käme von damals und gehe nach dann und du kämest mit ihr aus der Vergangenheit und gehest mit ihr in die Zukunft. Dann wieder scheint es dir, die Zeit, auch deine Zeit, käme aus der Zukunft auf dich zu nur um sogleich in der Vergangenheit zu entschwinden. So erlebst du die Zeit als eilend…

Du erlebst die Zeit als ausserhalb deiner selbst. Deine Zeit steht still. Du bist im Zentrum des Hurrikans, der um dich herum tobt, während du im Auge der Stille sitzt und dem chaotisch wirbelnden Geschehen zuschaust. Vorbei eilt die Zeit an dir, dem weinenden Kind, und an all den anderen weinenden Kindern, die du nun um dich herum erkennst. Schon bist du nicht mehr so einsam. Irgendetwas ist geschehen.

Was ist geschehen? Du siehst lebende Menschen als tot. Wie Marionetten treibt sie die Zeit an dir vorbei. Schemen wie Halluzinationen. Gestossen von der Vergangenheit, gezogen von der Zukunft, getrieben von der zerrinnenden Zeit.

Das ist geschehen: Du erkennst die Illusion der zerrinnenden Zeit. Alles Gestern, alles Vorher ist vorbei. Alles Morgen, alles Danach kommt erst noch. Beide sind Schemen, existieren nur in deiner Vorstellung. Dein Klammern an Vergangenes und Künftiges lässt dich unfrei sein. Dein Schieben der Übernahme der Verantwortung für dein Erleben in die Vergangenheit oder in die Zukunft ist ein reines Gedankenspiel, ohne Realitäts-bezug, ohne Wirklichkeitsgehalt. Hier bist du: Du, der das Gute, das Schöne und das Wahre suchende Mensch. Die Zeit eilt…

Die Zeit ist Illusion. Suche nicht in ihrem Ablauf nach der Wahrheit. Die Zeit ist der tobende Hurrikan, alles mit sich reissend und zerstörend. Die Wahrheit, die Schönheit, die Güte findest du im Auge des Hurrikans, dort wo umgeben von Dunkelheit und lärmendem Chaos die Sonne scheint und völlige Stille ist. Dort ist die Zeit, die nicht Illusion ist, die Zeit, die nicht kommt und geht. Diese Zeit trägt den Namen „Jetzt“ und der Ort, an dem sie ist, trägt den Namen „Hier“. Wenn du noch suchend bist, wenn du noch nicht gefunden hast, dann suche nirgendwo anders als hier und jetzt, denn nirgendwo sonst ist Wahrheit, nirgendwo sonst ist Wirklichkeit. Hier und jetzt scheint die Sonne, hier und jetzt strahlt das Licht der Güte, hier und jetzt sind Schönheit und Freiheit. Sie waren niemals und werden niemals sein, wenn nicht hier und jetzt.

Vorbei das Weilen in der Stille und im Licht im Zentrum des Zyklons. Vorbei auch das tobende Chaos. Zwielicht…

Kein Licht, keine Sonne, kein Orkan, kein Leben, das den Namen verdienen würde. Grau in grau erlebst du die Einheit von Innen und Aussen. Vorbei die Kluft, zu Ende die Spaltung. Doch freudlos wird die Einheit erlebt: Des Himmels Blau, gewandelt ist’s grau…

Tränen enttäuschter Hoffnungen und unerfüllter Erwartungen tropfen in deine Träume und Visionen von Zukunft und ertränken sie im Trank der Vergänglichkeit und Vergeblichkeit. Vorbei die Zeit der Illusionen. Die Quelle von Unwissenheit und Ignoranz versiegt angesichts der Wirklichkeit und trocknet das Irdische rein von unnötigem Leiden.

Du siehst die Tränen der Menschen erst dann wirklich, wenn du ihren Ursprung, ihre Quelle, in dir selber gefunden hast. Die Quelle ist die Missachtung der Seinsgesetze. Das Gesetz der Vergänglichkeit ignorierst du und klammerst dich an Vergängliches. Das Gesetz der Unzulänglichkeit, der Leidunterworfenheit ignorierst du und klammerst dich an Leidunterworfenes. Das Gesetz der Ich- und Selbstlosigkeit ignorierst du und klammerst dich als Besitzender an Besitz. Wenn du dies einmal tief erkannt und akzeptiert hast, dann weißt du, was Leben ist. Wenn du weißt, was Leben ist, wenn du vollständig akzeptierst, dass Leben nichts anderes ist als Sterben, und Sterben nichts anderes als Geborenwerden, dann weißt du auch aus erkanntem Erleben was Leiden und was Leidfreiheit ist. Dann verstehst du die Menschen und ihre Tränen ebenso wie ihre Fröhlichkeit und ihr Lachen.

Still geworden im Zentrum des Zyklons. Ordnung und Chaos erlebend erkannt. Was du jetzt siehst ist die eigentliche, die einzige, die wahre Not der menschlichen Existenz: Die ignorante Unwissenheit bezüglich der Gesetzmässigkeiten des Lebens. Und du siehst keine bösen Menschen mehr, keine Verbrecher, keine von einem willkürlichen Tyrannen zu ewiger Qual verdammte Sünder, nichts dergleichen. Was du jetzt siehst sind nur unwissende, hilflose, leidende Kinder. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ hat vor zweitausend Jahren einmal ein Sehender für sie gebetet.

Das Ende der Illusionen. Die Sicht auf die Wirklichkeit wie sie ist. Unverfälscht. Nackt. Gesegnet bist du, wenn du diese Sicht erträgst. In reiner Gnade lebst du, wenn du das Ende aller Illusionen erlebst. Traumlos lebst du so. Erwacht.



[1] Tagebuch, 2. März 1982