Schritte aufs Wasser

 




10     Schritte aufs Wasser

 

Ein Weg existiert erst dann als Weg, wenn er gegangen wird. Ein Weg, der nicht gegangen wird, ist kein Weg. Der Weg, den du suchst und gerne gehen möchtest, der Weg des wahren Lebens, der entsteht und entfaltet sich unter deinen Füssen mit jedem einzelnen Schritt, den du tust. Wenn du den Weg des wahren Lebens suchst, dann wisse: Du stehst auf ihm, und sobald du einen Schritt vorwärts gehst, hast du einen lebendigen, wahren Schritt getan und ein Stück von diesem Weg verwirklicht.

Da du den Weg nicht sehen kannst bevor du ihn gehst, bedeutet jeder Schritt dieses Weges einen Schritt ins Ungewisse, du setzt den Fuss auf eine Stelle, die dir bodenlos, nicht tragfähig erscheint. Das ist das Risiko des wahren Lebens, das Risiko lebendigen wahren Lebens: Dass du Vertrauen brauchst, eine Art Urvertrauen in das Leben, entgegen allem Anschein der Vertrauensunwürdigkeit den das Leben dir häufig zu präsentieren scheint. Nun aber wollen wir ja auf keinen Fall der Blindgläubigkeit das Wort reden, wie soll das also gehen? Was du brauchst ist ein sehendes, prüfendes Vertrauen. Wenn du das Vergängliche bereits als nicht tragfähig erlebt und erkannt hast, dann prüfe nun das Unvergängliche. Wenn sich das Zeitliche als nicht vertrauenswürdig erwiesen hat, wie wäre es dann, nun das Zeitlose auf seine Tragfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit hin zu untersuchen? Wage also kleine Schritte ins Ungewisse und entdecke, was daraus erwächst und entsteht.

Jesus ist problemlos über das Wasser geschritten ohne unterzugehen. Verstehe dieses Symbol, dieses Gleichnisbild. Da war ein Mensch voller Urvertrauen in die Existenz, in eine Existenz, die vor 2000 Jahren nicht besser war als heute (ob sie heute besser ist als damals, sei dahingestellt). Es sind nicht die materiellen Elemente, von denen sich dieser Mensch getragen wusste, nicht das Vergängliche, nicht das Zeitliche war es, dem sein Vertrauen gegolten hat, sondern das Ewige. Das von Geborenwerden und Sterben Unberührte. Und einer seiner Lehrlinge fand den Mut und die Kraft, ebenfalls das Irdische loszulassen und ins Nichtmaterielle zu vertrauen, und siehe da: Das Ungewisse war tragfähig. Es war tragfähig genau solange als das Vertrauen stark war. Kaum erkannte er sein Tun und die – nach weltlichem Ermessen – Unmöglichkeit dessen, was hier geschah, begann er zu sinken.[1]

Das Vertrauen in die Kraft des Geistes der Wahrheit ist eine subtile Sache, ein sehr zerbrechliches Geschehen. Dennoch: Hast du nur einmal einen oder zwei Schritte lang die Tragfähigkeit des Ungewissen erlebt, dann bist du ein neuer Mensch. Nach dem Erwachen aus der Illusion der Sicherheit des Materiellen und der Erkenntnis des Nichtmateriellen als tragend erhält dein Leben eine neue Richtung, eine neue Tiefe, einen neuen Sinn. Der Buddha nannte das, was er gefunden hatte, „Dharma“, das heisst „das Tragende“.

Du wirst noch oft sinken und untergehen auf diesem Weg, denn das Vertrauen braucht starke Wurzeln in der Erkenntnis. Die Erkenntnis, in der das Vertrauen wurzeln muss, ist die durchdringende Erkenntnis der Vergänglichkeit allen Seins. Nur durch solche Erkenntnis lässt du nach und nach das Nichttragende, eben das Vergängliche und Leidunterworfene, los und erlebst das Getragenwerden jenseits von Zeitlichem und Räumlichem. Du wirst noch oft sinken, aber nie wirst du weiter sinken als auf den Weg der Wahrheit und des Lebens. Denn dieser ist überall, wo du gehst und stehst. Und wenn du in einen Abgrund fällst, dann wirst du auch dort den Weg des wahren Lebens wieder finden und der Weg wird dich aus dem Dunkel ins Licht führen.

Lass dir nicht einreden du müsstest dies und jenes tun, beispielsweise dich bekehren oder dich einer Kirche oder Gemeinschaft anschliessen, um die Freiheit zu finden. Wie der Mann aus Nazareth unbeirrt seinen Weg des Lebens gegangen ist, so gehe auch du den deinen. Du bist ebenso ein Kind Gottes, ein wahres Wesen, wie er es war. Es gibt keinen Weg zum Erlöser hin. Es gibt für dich keinen Erlöser ausserhalb deiner selbst: „Du selbst bist die Antwort“, so der Titel des Alterswerks von C.S. Lewis[2].



[1] Bibel, Mt 14,22-33

[2] C.S. Lewis: „Du selbst bist die Antwort“ (Brendow 2007)