Mutter Erde

 



Zum (Mundart-) Lied
(CD "Uelis Schrot" 2007)



20     Mutter Erde

 

Ob Gott Vater oder Mutter Erde, mit beiden Bildern versucht der Mensch die Einheit des Ganzen zu beschreiben. Die ganze Erde ist lebendig, ist ein einziger lebendiger Organismus. Wenn wir Menschen dieses einzigartige Lebewesen, die Mutter Erde, mutwillig oder mit Blindheit geschlagen verletzen und zerstören, dann verletzen und zerstören wir auch uns selber und alles Leben mit uns. Wenn du ein Mensch bist, der Liebe empfindet für das Sein, dann leidest du unter dem Umgang des Menschen mit seiner Mutter, der Erde. Und wie du deiner leiblichen Mutter nicht den Tod wünschst, sondern gesundes Leben, so auch der Erde, die unser aller Mutterboden ist.

Aus deinem kleinen Lebensraum hier und jetzt schaust du hinaus in die Weite des Seins, siehst unseren Globus, die Erde und erkennst, wie wir Menschen mit unserer Mutter umgehen. Unsere Mutter blutet, wir bluten sie aus. Der Mensch versteht die Wirklichkeit seiner Freiheit falsch und missbraucht sie. Die eigentliche Frage zur Freiheit lautet nicht „frei wovon?“, sondern „frei wozu?“.[1]

Wenn du also ein Mensch bist, der den Frieden der Seele und die Freiheit seines Seins tatsächlich gefunden und verwirklicht zu haben glaubt, dann wisse, dass dies keineswegs das Ende deiner Existenz bedeutet. Du bist immer noch da, ein Mensch unter Menschen, ein Wesen dieser Erde, sie ist immer noch deine dich nährende Mutter. Achte sie, respektiere sie, schütze sie, liebe sie. Wenn du wirklich Friede im Herzen und die Freiheit des Geistes realisiert hast, dann muss man dir dies allerdings nicht sagen, denn dann kannst du nicht mehr anders.

Wenn du jedoch resignierend in deinem kleinen, engen Erlebensraum sitzen bleibst und von dort aus den Zustand der Welt und deine eigene Befindlichkeit beklagst, dann bist du ein Egoist, weiter nichts. Dann bist du weder ein gläubiger noch ein erwachter Mensch. Mach dich auf deine Mutter zu pflegen! Hör auf zu jammern und setze deine Begabungen und Fähigkeiten ein zum Wohle aller, zur Heilung des Ganzen, zur Freude unserer Mutter, zur Ehre Gottes.

Besitz ist alles, und der Besitzer von allem, der willst du sein. Aber du bist nichts, für dich alleine bist du nichts. Nur im Ganzen macht dein individuelles Leben einen Sinn. Du bist ein Glied am Körper Gottes, bist ein lebendiges Wesen des grossen, universalen Organismus, der den Namen „Leben“ trägt. Du bist im Organismus der Mutter Erde nicht mehr als eine Mikrobe in dem Organismus den dein Name bezeichnet. Du bist ausserordentlich wichtig, aber nur für das Ganze, nicht für dich alleine. Das Blut, das Leben unserer Mutter Erde, ist alles. Besitz ist nichts. Deshalb lehrte Jesus seine Schüler nicht nach vergänglichen Gütern zu trachten, die „die Motten und der Rost zerfressen“, sondern ihr Herz dem unver-gänglichen, dem zeitlosen Leben zuzuwenden.[2] Auch wenn sich die Menschheit schwer tut damit, ihre wahre Aufgabe anzunehmen und auszuführen, und auch wenn es scheint, dass kaum einer die Wahrheit erkennt: Wenn du denkst, sie zu kennen, dann tue sie! Lass deinen Anspruch auf Besitz, diesen Anschein von lebenswertem Leben, vollständig los und gib dich dem wahren Leben hin.

Wenn dich die Medienmeldungen zum Zustand der Menschheit und des Globus wütend machen, dann empfindest du Wahrheit. Die Wut in dir, dieses heisse Glühen, das ist Lebenskraft die du einsetzen kannst zum Wohle und zur Heilung des Seins. Lass es nicht bei der Wut bewenden, sie würde sich schliesslich gegen die Mutter Erde und gegen dich selber wenden und sich in den allgemeinen Zerstörungs-mechanismus einfügen. Das ist nicht der Weg des wahren Lebens. Erkenne deine Wut und akzeptiere sie, aber lenke sie um, kanalisiere sie in heilsame Aktivitäten. Jede Aggression ist eine unbändige Kraft, sie kann unendliches Leid erzeugen, kann aber auch beherrscht werden, beherrscht nicht im Sinne von Unterdrückung, sondern im Sinne von Anwendung dieser Energie für Heilsames, Heilendes, Heiligendes. Suche diesen Weg, entdecke, wie du deine Wut, auch deine Verletzung, deine Enttäuschung, deine Trauer in Heilsames verwandeln kannst.

Nicht die Macht an sich ist der Wahnsinn, sondern die zerstörerische Anwendung der Macht. Macht ohne Weisheit, ohne Liebe und Mitgefühl für alles Leben, das ist Wahnsinn. Macht, die besitzen will, die Besitzer sein will, Herr und Herrscher über die Dinge und die Wesen, das ist Wahnsinn. Dieser Wahnsinn scheint die Welt zu regieren. Dieser Wahnsinn scheint die Erde zu zerstören. Und dieser Wahnsinn will immer noch mehr Macht, will sich das ganze Universum, will sich Gott, die Wirklichkeit des Seins, untertan machen.

Aber die Gesetze des Seins wollen uns dienen, nicht von uns beherrscht werden. Weil wir sie beherrschen wollen, deshalb ergeht es uns wie dem berühmten Zauberlehrling, der Opfer wird seiner unwissenden Zaubereien.[3] Wir können uns nachgiebig, hingebend, sanft in die Gesetzmässigkeiten der Wirklichkeit einfügen, dann dienen sie uns, sobald wir aber die Herrschaft über sie an uns reissen und uns ihrer bemächtigen wollen, versagen wir. Sobald wir in Kategorien von Besitzer und Besitz, von Herrscher und Beherrschtem denken, sind wir dem Wahnsinn verfallen, denn das Leben kennt keine Besitzer und keinen Besitz, keine Herrscher und keine Beherrschten. Wahre Macht ist etwas vollständig anderes. Wahre Macht ist Eingefügtsein in die Wirklichkeit. Wahre Macht versucht nicht, die Seinsgesetze zu beherrschen. Wahre Macht ist echte Vollmacht, ist die echte Autorität, die aus der Hingabe an die Wahrheit, aus der den Gesetzmässigkeiten der Existenz dienenden Haltung, entsteht. Eine solche gesetzmässige Macht ist Weisheit. Sie überwindet den Wahnsinn.

Wo der Wahnsinn der Besitzgier herrscht, da wird über Leichen gegangen. Da wird die eigene Mutter verkauft und ausgebeutet. Da sind Bruder und Schwester leere Worte, ohne Bedeutung, ohne Sinn. Da gibt es keinen Nächsten ausser mir. Ich bin der Herr, die andern haben mir zu dienen. Jesus erkannte diesen unheilvollen Mechanismus und ermahnte seine Jünger: „Wenn jemand der Erste sein will, so sei er von allen der Letzte und aller Diener“.[4] Der Mensch wird die Gesetze des Seins nie beherrschen können. Er kann sie kennen lernen und sein Leben in sie einfügen, so findet er Frieden und Freiheit.

Wo der Wahnsinn von Besitzgier und Egoismus herrschen, da hungern und frieren Menschen. Wo das Geben, das Hingeben nicht vom Gebenden, vom sich Hingebenden, selber als ein Beschenktwerden erlebt wird, da wird Geben und sich hingeben als Verlust empfunden. Verlust, Loslassen aber, das will um jeden Preis verhindert werden. Dass das Geben, das Weggeben, das Loslassen in sich selber ein Wachstum an Liebesfähigkeit und an Mitempfinden mit allen Wesen, mit allem Leben, mit Gott ist, das ist dem Besitzer und dem besitzen Wollenden unbekannt.

Deine Sattheit und Übersattheit (sie äussert sich häufig in verschiedensten Formen des „es satt habens“) ist der Hunger deines Mitmenschen. Deine Geborgenheit und Wärme ist die Kälte und Verlassenheit deines Nächsten. Er ist dein Nächster auch dann, wenn er auf der andern Seite des Globus lebt. Die Erde ist klein. Du hast Brüder und Schwestern, weißt du, wer sie sind?

Wenn du nun depressiv wirst, dann hast du die Energie deiner Wut falsch eingesetzt. Du bist nicht aus deinem kleinen, engen Erlebensraum herausgetreten, herausgebrochen, sondern hast dich in dich selber verkrochen und nun zerfrisst die Energie deiner Wut dein Herz und wird statt zu wahrer Kraft zu Ohnmacht. Es mag hart klingen in deinen Ohren, aber nun bist du auf der andern Seite des Egoismus gelandet. Wieder geht es nur um dich, du bist der oder die Arme in dieser ach so schlechten Welt. Auf diese Weise wirst du nichts verändern, wirst du nichts beitragen zum Heil und zur Heiligung der Menschheit. Nun hast du dich zum Opfer gemacht, und die andern zu Tätern. Aber jeder Täter ist auch Opfer, und jedes Opfer ist auch Täter. Bedenke das.

Depression und Wut, überhaupt alle Emotionen, sind nicht Dinge, die dich von aussen, unabhängig von dir anfallen. In deinem Geist, in deinem Herzen schaffst du Bedingungen, die zu Emotionen werden. Deshalb ist es unumgänglich, dass du dich selber kennen lernst, dass du erkennen lernst, wie das Zusammenspiel von Körper, Gefühlen und Denken in deinem Leben funktioniert. So wirst du befähigt werden, in heilsamer Weise mit dir selber umzugehen. Und wenn du mit dir selber in heilsamer Weise umgehen kannst, dann wirst du es auch mit deinen Mitmenschen, mit allen Lebewesen, mit dem Leben und mit deinem Erleben überhaupt können.

Das Hoffen auf das Gute, auf das Schöne, auf das Wahre, auf Frieden, Freiheit und Liebe, das teilt die Mutter Erde mit dir. In der Bibel lesen wir, dass alle Lebewesen voller Hoffnung leben, in der Erwartung darauf, dass die Menschen als Kinder Gottes offenbar werden. Als Kind Gottes wirst du nicht offenbar durch ein religiöses Bekenntnis, was von engherzigen Glaubens- und Religionsgemeinschaften leider so verstanden und interpretiert wird. Als Kind Gottes wirst du offenbar, wenn du liebst.

Wer oder was ist Gott? Gott ist die Liebe, kannst du im Johannes-Evangelium lesen. Und wer ist nun ein Kind Gottes? Der liebende Mensch, der ist ein Kind Gottes, ein Sohn oder eine Tochter der Liebe. „Wer liebt“, sagt Johannes weiter, „der ist aus Gott geboren und kennt Gott“. Nicht weil du die Liebe anbetest und dich intellektuell zu ihr bekennst bist du ein Kind Gottes, sondern derjenige Mensch der liebt ist es, ein jeder Mensch der liebt ist ein Kind Gottes zu jedem Zeitpunkt, an dem er liebt.[5]

Die Mutter Erde und alle Lebewesen die sie ernährt und trägt hoffen darauf, dass die Menschen als Liebende und Mitfühlende in Erscheinung treten. Sie hoffen darauf, dass der Mensch seinen Widerstand gegen das Sein und gegen die Seinsgesetzmässigkeiten überwindet, dass er von seiner Ablehnung, seinem Hass gegen das Leben und gegen das Lebendige frei wird, ebenso wie von seiner Gier danach Leben und Dinge besitzen und beherrschen zu wollen.

Lass es zu, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit wie sie ist in deinem Herzen Schmerz verursacht. Dieser Schmerz, der ist dein Mitgefühl mit dem Leiden der Mutter Erde und der Lebewesen. Wenn du diesen Schmerz nicht zulässt, ihn unterdrückst oder verleugnest, dann verhärtet sich dein Herz und wird zu Stein. Gott aber, als die Liebe, nimmt das Herz aus Stein aus deiner Brust und schenkt dir ein Herz aus Fleisch, ein lebendiges, zu Mitgefühl und Liebe fähiges Herz. Lass also den Schmerz des Lebens zu, allen Schmerz, den du empfinden kannst, denn er gehört ganz wesentlich zum Leben. Die Bereitschaft, der Mut, die Kraft, den Schmerz zuzulassen, das macht dich zum mitfühlenden, zum liebenden Menschen, zum Kind Gottes.

Vieles kann getan werden, das zur Heilung und zur Heiligung des Menschen und allen Lebens beiträgt. Nichts Unmögliches wird von dir erwartet, nur dieses: Dass du vollständig dich selber bist und dass du dich so wie du bist einbringst in das lebendige Ganze, ins Sein. Deine Soheit gleicht keiner anderen, dein Sosein ist einmalig, kein anderes Sein ist so wie das deine. Du bist der du bist, und als genau der Mensch, der du bist, gib dich ein, gib dich hin. Nichts anderes hast du als dein Sosein, und selbst dieses besitzt du nicht, sondern es ist einfach da, so wie es ist. Verstecke es nicht, gib es dem Ganzen, gib es Gott, gib es der Liebe hin und liebe. Dass selbst die Bibel die Liebe höher einstuft als allen Glauben, was Fundamentalisten gerne verdrängen, das zeigt sich in Paulus Aussage: „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe“.[6] Und noch deutlicher wird Paulus dort, wo er feststellt, dass weder Gläubigsein noch Ungläubigsein etwas gelte, sondern nur das Vertrauen ins Leben, das durch die Liebe wirksam werde. „Denn“, sagt Paulus weiter, „das ganze Gesetz wird in einem Worte erfüllt, in dem: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.’“[7]

Nimm also dein Sosein an, respektiere und achte es, gehe mitfühlend und liebevoll mit dir selber um und mit allen deinen Mitmenschen und allen Lebewesen deiner Erlebenswelt. Sie alle haben ihr Sosein, so wie du das deine, und das ganze Universum, das Sein als Ganzheit hat sein Sosein, ist wie es ist und hat darin Teil am Wesen Gottes, das beschrieben ist mit dem Namen „Ich bin der ich bin da“. Dieses Sosein, dein „ich bin der ich bin da“, das schenke uns.



[1] Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“ (Anaconda 2005)

[2] Bibel, Mt 6,19-20

[3] J.W. von Goethe: „Der Zauberlehrling“ (Ballade von 1827)

[4] Bibel, Mk 9,35

[5] Bibel, 1.Joh 4,7-21

[6] Bibel, 1.Kor13,13

[7] Bibel, Gal 5,6; Gal 5,14