Wach auf!

 



Zum (Mundart-) Lied
(CD "Uelis Schrot" 2007)



21     Wach auf!

 

Unwissenheit und verblendete Weltsicht sind wie ein Albtraum aus dem es zu erwachen gilt. Als Mensch bist du mit fünf körperlichen Sinnen und dem Geistsinn (dem „Herz“ als Symbol von dessen Grundlage) als sechstem ausgestattet. Durch diese sechs Sinne erlebst du. Öffne diese sechs Sinne und entfalte den direkten, unverfälschten Anblick der Wirklichkeit wie sie ist. Lebe nicht in Vorstellungen, Phantasien und Wunschträumen bezüglich des Lebens, sondern erwache aus ihnen zur Wirklichkeit des Seins. Öffne also deine fünf körperlichen Sinne, die dich alle Schönheit und alle Hässlichkeit der irdischen Existenz unverfälscht erleben lassen. Verschliesse deine Sinne nicht, weder gegenüber dem Schönen, noch gegenüber dem Hässlichen, so wird dein Gefühlsleben frei fliessen können. Und öffne deinen Geistsinn auf der Grundlage des Herzens. Du wirst Lust und Schmerz, Freude und Qual erleben, und du wirst all dieses Erleben kennen und erkennen lernen als den Weg des wahren Lebens.

Nicht offen bist du, wenn du deine Sinne verschlossen hältst aus Angst vor Pfeilen, die sie treffen könnten. Nicht offen bist du auch, wenn du deinen Geist mit Alkohol oder Drogen betäubst, um den Schmerz der Existenz nicht zu fühlen. Es gibt fast nichts, das du nicht auch dazu verwenden könntest, deinen Geist zu vernichten und dein Herz zu versteinern. Auch die Religion kann dazu missbraucht werden.

Die freie Natur ist ein grossartiges Heilmittel und zudem ein kostenloses. Gehe an einen Fluss oder See, gehe durch Wälder oder über Hügel und Berge, dort kannst du es wagen, die Sinne zu öffnen. Dort kannst du es erleben, wie dir durch offene Sinne Wahrheit zuströmt und wie die Wahrheit dein Herz belebt und deinen Geist erweckt. Höre auf, deinen Geist, dein Herz mit wertlosen Dingen und Betätigungen zu füllen und nimm dir Zeit leer zu werden. Leer an ich und mein, leer an Wahnsinn, Illusion und Verblendung. Wach auf!

Wenn du ein mitfühlender Mensch bist, dann ist es normal, dass dein Herz schmerzt. Der Schmerz, der ist das Mitgefühl, der ist die Liebe in dir. Dieses Mitgefühl deines Herzens, das wünscht sich Leidfreiheit für alle Existenz, für alle Wesen. Lass diesen Schmerz zu und lenke seine Energie in Gedanken, Worte und Taten des Mitgefühls, in Gedanken, Worte und Taten der Liebe. Das ist der Weg des wahren Lebens. Von Jesus heisst es, dass es ihn jammerte, und in der wörtlichen Übersetzung, so habe ich gehört, heisse es, dass es ihm die Eingeweide umgedreht habe, das Leiden der Lebewesen zu erleben. Weiche diesem Schmerz nicht aus, verdränge und verleugne ihn nicht, denn er ist ein kostbarer Schatz, ein Schatz, der deine Menschlichkeit ausmacht.

Du wirst niemals alles gesehen, niemals alles erlebt haben, was dem Menschen möglich ist zu sehen und zu erleben. Du hast deine eigene Erlebenswelt, andere haben die ihre. Jage den Erlebnissen und Erfahrungen nicht nach. Erleben ist immer da, und wenn du nur deine Sinne geöffnet hältst, dann machst du in jedem Augenblick deines Lebens Erfahrungen. Du kannst überhaupt zu keinem anderen Zeitpunkt und an keinem anderen Ort erleben als nur hier und jetzt. Wenn du dich diesem Augenblick hier und jetzt verschliesst, dann hast du dich einer Erfahrung verschlossen. Die ganze Welt, alles was irgend an erleben und erfahren möglich ist, steht im Hier und Jetzt dir zur Verfügung. Wenn du das Leben gestern verpasst hast, dann ist das Verpasste nicht rückgängig zu machen. Wenn du das Leben heute verpasst, dann ist es morgen nicht rückgängig zu machen, und wenn du heute, hier und jetzt, nicht bereit bis zu leben, nicht bereit bist das zu erleben, was hier und jetzt wirklich ist, dann wirst du mit grosser Wahrscheinlichkeit auch morgen nicht aufwachen.

Deshalb tönt der Ruf „Wach auf!“ heute, hier und jetzt an dein Ohr und berührt dein Herz, weil du nur hier und jetzt aufwachen kannst. Wann immer du aufwachst, es wird zu diesem Zeitpunkt hier und jetzt sein. Wenn du aber dieses Erwachen ins Hier und Jetzt immer wieder hinausschiebst, dann wird dieses Hinausschieben zu deinem Charakterzug, und du wirst ein ewig Hinausschiebender sein, kein Erwachender, kein Erwachter. Das wäre keine Sünde, für die du in einer ewigen Hölle schmoren müsstest, es wäre nur einfach so, dass du den Weg des wahren Lebens nicht kennengelernt und stattdessen dein Leben verträumt und in Illusionen verbracht hättest. Auch das steht dir frei, aber ich wünsche dir das nicht, sondern ich wünsche dir das Erwachen.

Wie fühlst du dich jetzt? Erlebst du dich als Träumender oder als Erwachender? Oder bist du schon richtig erwacht, vollständig präsent hier und jetzt? Nicht vor mir, aber vor dir selber lege Rechenschaft ab über den Zustand deines Lebens. Lebst du vorwiegend in Träumen, in Wünschen und Illusionen? Oder lebst du in der Realität, in der Wirklichkeit wie sie ist? Kannst du aufrichtig und ehrlich sagen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“? So leicht ist das nicht, täusche dich nicht. Wenn du es nur sagst, ohne die Echtheit dieser Aussage in der Tiefe und Weite durchdringenden eigenen Erlebens und Erkennens gegründet zu haben, dann wirst du mit dieser Aussage auf die Nase fallen. Fürchte dich aber nicht davor, diese Wahrheit zu erkennen. Wenn du stolperst und auf die Nase fällst, dann stehe halt wieder auf, ein wenig kleiner, ein wenig demütiger geworden, und auch darin wahr und echt.

Wisse es vor allem selber, ob du stehst oder liegst. Wisse, wenn du stehst, dass du stehst, und wisse, wenn du liegst, dass du liegst. „Alles hat seine Zeit“[1], also haben sowohl das Stehen als auch das Liegen ebenfalls ihre Zeit und somit ihren Sinn. Den Sinn musst du nicht anders benennen können als mit dem Wort „Sinn“. Die Frage ist nicht, ob dein Stehen oder Liegen einen anderen Sinn hat als das Stehen oder Liegen an sich. Wenn die Zeit ist zu Stehen, dann hat das Stehen Sinn. Wenn die Zeit ist zu liegen, dann hat das Liegen Sinn. Interpretieren und Rechtfertigen musst du weder das eine noch das andere.

Die eigentliche Bedeutung von Zeit liegt nicht in einem linearen Geschehen von damals nach dannzumal, sondern in dem, was die Bibel „Kairos“ nennt, „die rechte Zeit“. Wenn die rechte Zeit ist fürs Stehen und du liegst, dann findet dein Liegen in der falschen Zeit statt, und Dinge, die in der falschen Zeit stattfinden, verursachen Leiden. Was zur rechten Zeit stattfindet, das überwindet Leiden und führt zur Entfaltung von Frieden und Freiheit. Also achte darauf, was du gerade denkst, sprichst oder tust, und achte darauf, ob dir dein Herz meldet, dass dafür die rechte Zeit ist oder nicht. Das ist der Weg des wahren Lebens, das bedeutet dem Leben zu Vertrauen und den inneren Weg zu praktizieren.

Ein Thema haben wir immer wieder angesprochen: Kennst du die beiden Seiten der Existenz? Kannst du beide Seiten als gleichermassen dem Leben zugehörig erkennen und akzeptieren? Es ist von grosser Bedeutung, das zu lernen, denn wenn du nicht bereit bist, das zu lernen, dann bist du nicht bereit dazu ein volles, ein ganzes, ein erfülltes Leben zu leben. Wenn dein Leben sich darin erschöpft, die eine Hälfte des Seins zu wollen und die andere nicht zu wollen, dann führst du ein zutiefst gespaltenes, ein zerrissenes und dadurch sehr leidvolles Leben. Das muss nicht sein. Du kannst das Leben in seiner ganzen umfassenden Wirklichkeit kennen und annehmen lernen. Du kannst es lernen, nicht nur der einen Hälfte des Lebens, sondern dem Leben in seiner ganzen Fülle zu vertrauen.

Lebst du oder bist du tot? Mit dieser letzten Frage an dich will ich dich ermutigen, Leben und Tod nicht mehr als Gegensätze wahrzunehmen. Leben tust du, wenn du bereit bist zu sterben. Tot bist du, wenn du nicht bereit bist zu leben. Wenn du verstanden hast, was ich dir durch diese Schrift sagen will, dann wirst du dich nicht gegen den Tod für das Leben oder gegen das Leben für den Tod entscheiden, denn dann erkennst du, zumindest intellektuell, dass Leben und Tod eine untrennbare Einheit sind.

Wer sein Leben festhalten wolle, sagte Jesus, der werde es verlieren, und wer dazu bereit sei, sein Leben zu verlieren, der werde es gewinnen.[2]

Möge dein Lebensweg zu dem werden, was er in Wirklichkeit immer schon war und was er in Wirklichkeit ist: Der Weg des wahren Lebens. Dem Weg des wahren Lebens vertraue. Dem Leben vertraue.



[1] Bibel, Pred 3

[2] Bibel, Lk 17,33