Es war einmal

 




11     Es war einmal

 

Unsere westliche Kultur orientierte sich jahrhundertelang fast ausschliesslich am Beispiel der Person Jesus Christus. Er war sich sicher und hat es gezeigt durch sein eigenes Leben und Wirken, dass er selber die Antwort sei. Er hat gesagt, er sei gekommen als ein Zeuge der Wahrheit, um die Wahrheit sichtbar zu machen, damit die so sichtbar gemachte Wahrheit als Wahrheit erkannt werden könne, und die so erkannte Wahrheit werde uns freimachen[1]. Wie er, so auch wir sind also zu diesem einen Zweck hier in der Existenz: Um Wahrheit zu sein, um als Wahrheit erkannt zu werden und so befreiend, erlösend zu wirken in der Welt. Das ist der Sinn des Lebens.

Er wurde geboren auf einer Wanderschaft. Das Symbol des Unterwegsseins begleitet sein Leben von der Geburt bis zum Tod und darüber hinaus. Das Unterwegssein, der Wandel, die unaufhörliche Verwandlung, das Entstehen und Vergehen jeden Erlebens und jeden Augenblicks, das macht das Leben aus, charakterisiert es. Wenn du irgendetwas als deine Heimat bezeichnen möchtest, dann kann das nur die Veränderung sein. Wenn du in der Wahrheit geboren bist, dann erkennst du die Vergänglichkeit als deinen Geburtsort, das Vorläufige, das Unbeständige. An diesem Geburtsort lebst du dein Leben, egal wo auch immer du hingehst, und an diesem Ort des Lebens wirst du auch sterben, wird all dein Unbeständiges, verwehen und aufgehoben werden.

Lies, wenn du es überhaupt tust oder tun möchtest, die Bibel als eine Bilder- und Symbolsprache. So wird sie dir reich-haltige Nahrung bieten für dein Sein. Lies sie keinesfalls in dogmatischer Buchstabenhörigkeit, denn wenn du sie so liest, wird sie dich starr und leblos machen, dann wird sie für dich zu einem Buch, das dich versklavt und gefangen nimmt, statt dass es dir zur Freiheit verhilft. Habe Mut und deute für dich ganz persönlich, ganz subjektiv, Bilder wie dieses von der Geburt auf der Wanderung in einem Stall und auch dieses von der Empfängnis durch eine Jungfrau. Nimm diese Erzählun-gen und Beschreibungen nicht wörtlich, das würde dich nur irreleiten, meditiere aber darüber und versuche zu empfinden und zu erkennen, was solche Bilder in dir auslösen, welche Bedeutung sie haben könnten für deine Erkenntnis der Wahrheit, für dein Leben, für deinen Weg.

Er hat gezeigt, dass das Sein in Wahrheit Liebe ist und die Existenz eingebettet in dieses Sein. Er hat von dieser Liebe nicht nur gesprochen, er hat sie gelebt. Und immer dann, wenn du selber die Liebe lebst, dann ist dieses Sein dein Weg, dein Leben, deine Wahrheit, dann bist du der Weg, die Wahrheit und das Leben. Deute also die Wahrheit nicht ausschliesslich in einen Menschen hinein, der vor mehr als zweitausend Jahren auf der Erde lebte. Verhalte dich nicht so, als sei der lebendige Weg der Wahrheit heute nicht mehr möglich, als sei nicht ein jeder Mensch, ein jedes Wesen, die gesamte Schöpfung Weg und Wahrheit und Leben.

Komme zu deinen Mitmenschen mit einem vergebenden Herzen. Wir sind alle voller Mängel, Schwächen, Fehler. Das Leben wird zur Hölle ohne Vergebung. Wenn du deine Mitmenschen auf ihre Versagen festnagelst, dann machst du nicht nur ihnen, sondern vor allem auch dir selber das Leben zur Hölle. Ein anklagendes Herz ohne Vergebung, ohne Versöhnung, ist ein einziger qualvoller Schmerz. Das anklagende und nicht zu Vergebung und Versöhnung bereite Herz ist ein Herz welches Leiden verursacht für sich selber und für andere. Wenn du das klar erkennst, dann unternimm alles nur Mögliche, um von inneren Anklagen frei zu werden. Nicht nur von den Anklagen an andere, Einzelne, Familie, Gesellschaft oder Gemeinschaft, auch und im Grunde vor allem befreie dich von den Anklagen an dich selbst. Wenn du dir vergibst, dich mit dir, mit deiner persönlichen Geschichte und Existenz aussöhnst, dann lebst du in der Liebe, dann entfaltest du den Weg des wahren Lebens.

Frei von Anklage, frei von Verurteilung ist der Mensch, jeder Mensch, ein total lebendiges Geschenk der Wahrheit an das Leben. Du kannst dich selber als ein solches Geschenk erleben, wenn du nur bereit bist dich anzunehmen wie du bist.

Der Mensch Jesus von Nazareth ist ein leuchtendes Beispiel und Vorbild der Vergebungsbereitschaft. Noch vom Kreuz herunter, nach Folter und Erniedrigung, bat er das Sein, den Vater in seinen Worten, um Vergebung für seine Peiniger.[2]  Er wusste, dass nur ein unwissender Mensch andere Wesen willentlich Leiden macht. So erkannte er in der menschlichen Unwissenheit den Ursprung von Leidverursachung. Unwissen-heit über die Wahrheit kann jedoch überwunden und aufgehoben werden. Deshalb war es ihm nicht möglich, seine Richter und seine Folterknechte der Unwissenheit anzuklagen, vielmehr war die Unwissenheit das Motiv für seine Vergebung und die Vergebung ein augen- und herzenöffnendes Handeln eines aus der Unwissenheit erwachten Menschen.

Wenn du alle diese und viele andere Geschehnisse, von denen die Bibel berichtet, ihrer wahren Bedeutung nach erfasst, dann werden auch deine Herzensaugen aufgehen und der trügerische Schlaf des Unwissenden wird der befreienden Klarbewusstheit des Erwachten weichen. Dann sind Anklage und Unversöhnlichkeit nicht mehr möglich und dein Herz wird frei sein zu lieben, in der ihm eigenen, vollständig subjektiven Art und Weise. Verzichte darauf, deine Befähigung zur Liebe und ihren Ausdruck mit anderen Menschen zu vergleichen. Liebe ist unvergleichlich und unvergleichbar. Lebe mutig in ihr und lass sie frei durch dein Leben fliessen und den Ausdruck finden, der ihr entspricht. Er ist einmalig. Kein anderer Mensch auf dieser Erde kann so lieben wie du es tust.

Die Zeit, da der Mensch Jesus von Nazareth als ein mit Liebe, mit Vergebung, mit Wahrheit Gesalbter auf dieser Erde lebte, die liegt weit zurück in der Vergangenheit. Lange ist es her. Du aber, du lebst. Du lebst hier und jetzt. Durch dich können alle diese wertvollen und heilenden Dinge wie Liebe, Vergebung, Wahrheit, und viele positive und heilsame Herzenshaltungen mehr hier und jetzt wirklich sein. In dir lebt heute ein Kind von Wahrheit und Liebe auf der Erde.

Die Erde, die gesamte Schöpfung, so sagt die Bibel, warte auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes.[3] Viele Herzenstüren sind noch fest verschlossen, aus diesem Grund sehen wir so wenig Göttliches, so wenig Güte in der Welt. Also öffne du dein Herz weit und lass die Wahrheit strömen durch dich in die Existenz. Das ist dein Anteil, deine Aufgabe, das ist das, was du tun kannst.



[1] Bibel, Joh 8,31-32; Joh 18,37

[2] Bibel, Lk 23,34

[3] Bibel, Röm 8,20-21